Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Darmbakterienabtötung durch Antibiotika macht Versuchsmäuse vergesslich


Neuronen des Hippocampus und Ly6C-Monozyten werden verringert

Hannover, 22. August 2016:

Ohne Darmbakterien werden Mäuse vergesslich. Zu diesem überraschenden Ergebnis kam ein internationales Forscherteam – darunter auch Wissenschaftler vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin – als es den Nagetieren mehrere Antibiotika verabreichte und so die Bakterien in deren Darm abtötete. Die Autoren berichten im Fachmagazin Cell Reports, dass sich bei den Mäusen, denen mehrere Antibiotika verabreicht wurden,  weniger Nervenzellen im Hippocampus ausbildeten (1).

Normale Versuchsmäuse erhielten über sieben Wochen einen Cocktail aus fünf verschiedenen Antibiotika. Die Behandlung führte dazu, dass die Darmbakterien der Tiere fast vollständig abgetötet wurden. Bei einem Teil dieser Versuchsmäuse analysierten die Forscher die Anzahl der neu gebildeten Neuronen im Hippocampus. Sie stellten dabei fest, dass im Vergleich zu unbehandelten Tieren unter Antibiotikagabe deutlich weniger Neuronen entstanden waren. Erneuerung von Neuronen im Hippocampus ist wichtig für die Orientierung und die richtige Einordnung neuer Dinge.

Die verminderte Neurogenese hatte dramatische Auswirkungen auf das Erinnerungsvermögen der mit Antibiotika behandelten Mäuse. Um ihr Gedächtnis zu testen, wurden sie in einen Kasten gesetzt, in dem ein Zylinder und ein Würfel aufgestellt waren. Die Tiere liefen neugierig um die Gegenstände herum und beschnüffelten sie ausgiebig. Nach einer Minute wurde der Würfel gegen einen Winkel ausgetauscht. Wie erwartet, interessierten sich die Mäuse hauptsächlich für das neue Objekt. Drei Stunden später mussten die Mäuse nochmals in den Kasten. Sie zeigten nun für beide Gegenstände gleichermaßen Interesse. Offensichtlich konnten sich die Tiere nicht mehr erinnern, dass sie den Zylinder eigentlich schon viel gründlicher als den Winkel untersucht hatten. Ihr natürlicher Instinkt, neue Gegenstände zu erkunden, war intakt, aber ihr Gedächtnis hatte sie im Stich gelassen. Unbehandelte Mäuse dagegen inspizierten vor allem den Winkel, da sie sich offensichtlich erinnern konnten, dass sie diesen bislang noch nicht so gut erkundet hatten.

Zusammen mit der Neurogenese im Hippocampus war auch die Zahl der Ly6Chi-Monozyten deutlich zurückgegangen. Die Autoren gehen davon aus, dass diese Immunzellen ein bisher unbekannter Vermittler zwischen Gehirn und den Darmbakterien sein könnten. Wenn die Mäuse nach einer Antibiotika-Behandlung zusätzliche Ly6Chi-Monozyten verabreicht bekamen, normalisierte sich die Neubildung von Nervenzellen wieder.

Es sieht so aus als ließe sich der Gedächtnisverlust umkehren. Sowohl eine Mixtur aus ausgewählten Bakterienstämmen (Probiotika), die die Mäuse zusätzlich zu ihrer Nahrung erhielten, als auch ein mehrtägiges Training im Laufrad führten dazu, dass die negativen Wirkungen der Antibiotika-Therapie wieder rückgängig gemacht wurden und sich dabei auch die Anzahl der Ly6Chi-Monozyten wieder erhöhte.

Die Autoren vermuten, dass  die Ly6Chi-Monozyten einen löslichen Faktor ausschütten, der die Nervenzellen zur Teilung anregt. Bereits in den vergangenen Jahren konnten andere Forscherteams zeigen, dass die Ly6Chi-Monozyten an vielen Prozessen im zentralen Nervensystem beteiligt sind.

Eine andere Studie, deren Ergebnisse 2015 im Fachmagazin Nature Neuroscience veröffentlicht wurden, scheint den Einfluss der Darmflora auf Immunzellen im Gehirn zu bestätigen:  Forscher vom Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Freiburg stellten fest, dass bei Mäusen ohne Darmbakterien die Mikrogliazellen im Gehirn völlig unreif und verkleinert waren (2). Von diesen Immunzellen ist bekannt, dass sie eine wichtige Rolle bei der Alzheimer-Demenz oder der Multiplen Sklerose spielen (3). Auch in der Studie von Erny et al. (2) ließen sich die Effekte wie in der Arbeit von Möhle et al. (1) umkehren, wenn der Darm der Mäuse wieder mit Bakterien besiedelt wurde. Die Freiburger Forscher  kamen auch den Signalstoffen auf die Spur, die das Immunsystem des Gehirns stimulieren: Die Bakterien geben kurzkettige Fettsäuren ab, die sie durch die Verdauung von Ballaststoffen herstellen (2).

Kommentar

Die Darmflora ist bereits seit einigen Jahren in aller Munde. Untersuchungen haben gezeigt, dass sie eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Übergewicht, Adipositas-assoziierten Entzündungen und Insulinresistenz spielt (4, siehe auch 5-7). Fäkal-Transplantationen von gesunden schlanken Probanden auf Patienten mit Diabetes und/oder Adipositas führen zu deutlicher Verringerung der Krankheitssymptome (4). Ist das Mikrobiom gestört, geraten auch die Abwehrkräfte und das Botenstoffsystem der Nerven aus dem Gleichgewicht. Es gibt auch Hinweise, dass die 100 Billionen Mikroben im Darm des Menschen die Psyche beeinflussen. Wenn man bedenkt, dass 90% aller Zellen, die wir mit uns herumtragen, von Darmbakterien sind und  nur 10 Prozent „uns gehören“, fragt man sich, wer hat eigentlich die Kontrolle über wen, meine Darmbakterien über mich, oder umgekehrt? Wie auch immer, eine Darmspülung ist deshalb aber noch lange keine Hirnwäsche.

Klaus-Dieter Döhler, Hannover

Literatur

(1) L. Möhle et al.: Ly6C(hi) Monocytes Provide a Link between Antibiotic-Induced Changes in Gut Microbiota and Adult Hippocampal Neurogenesis.
Cell Rep. 2016 May 31; 15(9):1945-56

(2) D. Erny et al: Host microbiota constantly control maturation and function of microglia in the CNS.
Nat Neurosci. 2015 Jul; 18(7):965-77

(3) B. Jannssen et al: Imaging of neuroinflammation in Alzheimer’s disease, multiple sclerosis and stroke: Recent developments in positron emission tomography.
Biochim Biophys Acta 2016 Mar; 1862(3):425-41.

(4) A. Vrieze et al.: Transfer of intestinal microbiota from lean donors increases insulin sensitivity in individuals with metabolic syndrome.
Gastroenterology 2012. 143:913-916.e7

(5) H. Schatz: Fäkalbehandlung – eine Option bei Übergewicht und Diabetes? Machen Darmbakterien dick?
DGE-Blogbeitrag vom 19. Januar 2013

(6) H. Schatz: Stuhlverpflanzung auch bei Typ-1-Diabetes zum Betazell-Erhalt?
DGE-Blogbeitrag vom 21. Mai 2013

(7) H. Schatz: Zusammenhang zwischen Mikrobiom und Typ-1-Diabetes?
DGE-Blogbeitrag vom 10. April 2015

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Publiziert am von Prof. Klaus Döhler
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