Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Ethik in der Medizin und Multimorbidität


Julian Nida-Rümelin, Karl Kardinal Lehmann und Edouard Battegay auf dem  123. Deutschen Internistenkongress in Mannheim, 29.4. – 2.5.2017

Bochum, 4. Mai 2017:

„Versorgung der Zukunft: Patientenorientiert, integriert und ökonomisch zugleich“ – so lautete das Leitthema des von der Kongresspräsidentin Frau Professor Dr. Petra-Maria Schumm-Draeger, München, einem Mitglied unserer Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie  hervorragend organisierten 123. Kongresses der Deutschen Internisten in Mannheim.

Die Festansprache bei der sonntäglichen, traditionellen Festlichen Abendveranstaltung hielt  Prof. Dr. Dr.h.c. Julian Nida-Rümelin, München über „Ökonomie und Ethik“. Sein anspruchsvoller philosophischer Vortrag befasste sich mit der allgemeinen Gefährdung des Berufsethos durch Ökonomisierung, auch in der Medizin. Im Besonderen hob er die Notwendigkeit eines Vertrauens zwischen dem kranken Menschen und dem Arzt hervor.

Plenarvorträge hielten unter anderem Kardinal Lehmann und Prof. Battegay:

Karl Kardinal Lehmann, Mainz, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz sprach am 29. April 2017 über „Zuwendung aus Menschlichkeit. Ambivalenz des Fortschrittes – auch in der Medizin?“  Eingangs beschäftigte er sich mit den „Grenzen eines unaufhaltsamen Fortschritts“. Die Natur sei stets menschlichen Zielsetzungen unterworfen worden. „Wir schreiten zurück, wenn wir nicht fortschreiten, weil man nicht stehenbleiben kann“ zitiert er Leibniz. Dies bestimme auch heute noch unser Denken. Die Spannung zwischen technisch Machbarem und sittlich Verantwortbarem werde meist überhaupt nicht wahrgenommen. Eine neue ethische Betrachtung des technisch Machbaren  sei notwendig. Seit der Antike bis ins letzte Jahrhundert habe es vorwiegend nur Regeln für ein ethisches Verhalten gegenüber anderen Individuen gegeben. Erst mit dem Philosophen Hans Jonas wurde im 20. Jahrhundert eine Ethik gegenüber der Natur und für den Umgang mit der Technik postuliert. Er formulierte einen ethischen Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftigen Möglichkeiten des Lebens“. Ethisches Verhalten gelte auch gegenüber den heutigen Fortschritten in der Medizin. Bei allen Notwendigkeiten einer Technisierung und Ökonomisierung dürfe die Menschlichkeit nicht zu kurz kommen. Es dürfe keine „Kommerzialisierung“ stattfinden. In den Mittelpunkt seiner Rede stellte der Kardinal den Patienten als Individuum. Dieser dürfe nicht ohne Verantwortungsbewusstsein allem, was etwa technisch möglich ist, unterworfen werden. Für den heutigen, als eigenständige Persönlichkeit geprägten, auf Autonomie bedachten Menschen sei es ohnedies manchmal schwierig, wenn er krank und alt werde, die  Entscheidungen des Arztes über seine Person zu akzeptieren. Auch für den Arzt sei es eine Herausforderung, angesichts der Ohnmacht des Kranken nicht rasch zum Herrschenden mit Verfügungsmacht über ihn zu werden. Zuwendung und „Begleitung“ sind gerade in der heute weitgehend technisierten und ökonomisierten Medizin wichtig. Die Situation des Kranken könne leicht zu Vereinsamung und Einsamkeit führen. Die Besuche von Angehörigen und Freunden seien daher für  den Patienten von grosser Wichtigkeit.  Alle diese Ziele, so Kardinal Lehmann, seien im Leitthema des Internistenkongresses hervorragend formuliert.

Den Plenarvortrag am 1. Mai 2017 hielt das am Vortag ernannte neue Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, Prof. Dr. med. Edouard Battegay, Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Zürich. Sein Thema lautete: „Herausforderung Multimorbidität für Patient, Arzt und Gesundheitssystem“. Eingangs trug er die Daten über die hohe Zahl multimorbider Patienten des Züricher Klinikums vor. Er wies auf die enorm vielen theoretischen Interaktionsmöglichkeiten hin. Diese würden freilich unter Berücksichtigung von Clustern wie etwa den Facetten des Metabolischen Syndroms deutlich geringer. Der Arzt müsse den ganzen Menschen mit seinen Mehrfacherkrankungen sehen. Die heute immer älter werdenden Menschen sind zunehmend multimorbide. Ärzte müssten in ihrer studentischen Ausbildung und auch in der Weiter- und Fortbildung die Probleme bei Multimorbidität besser erkennen und ihnen zu begegnen lernen. Die heutigen DRG´s (Diagnosis- Related Groups) und die vielen Leitlinien für die einzelnen Erkrankungen werden den Anforderungen bei multimorbiden Patienten kaum gerecht. Den mehrfach erkrankten Menschen angesichts der vielen Leitlinien demonstrierte Battegay mit zwei Bildern: einem Bild von Wassily Kandinsky  und nach „Aufräumen“ des Bildes durch den Schweizer Künstler  Ursus Wehrli (1). Der Referent (HS) hat sich erlaubt, das offizielle Kongressbild des Internistenkongresses von Wassily Kandinsky, welches dem von Professor Battegay gezeigten  ähnlich ist,  in Anlehnung an Ursus Wehli schematisch „aufzuräumen“: Die nach Farbe und Grösse angeordneten Bildkomponenten sollen die heutigen Leitlinien für einzelne Erkrankungen symbolisieren, welche auf multimorbide Patienten oft nur ungenügend anwendbar sind.

Kommentar

Auf den Fluren des Kongresses hörte man vielfach, dass das Zentrum des Kongressbildes nicht gendergerecht sei, da es in der Mitte wohl eindeutig ein Spermium darstelle. Die Zahl der Lehrstühle für Gendermedizin an den Universitäten nimmt zu und manche(r) fragt heute, ob es  nicht für Frauen und Männer gesonderte Leitlinien geben müsse, zumindest für bestimmte Erkrankungen. Nur auf ein möglichst ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter bei den zur Leitlinienerstellung herangezogenen Studien zu achten sei nach Meinung Vieler zuwenig.

Helmut Schatz

Literatur

(1) Offizielles Kongressbild (Wassily Kandinsky), „aufgeräumt“ vom Referenten im Stile des Ursus Wehrli

Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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2 Antworten auf Ethik in der Medizin und Multimorbidität

  1. Helmut Schatz sagt:

    Eben habe ich im „Walden-Museum“ in Concord bei Boston folgenden Ausspruch von Henry David Thoreau gelesen. Dieser amerikanische Schriftsteller und Philosoph lebte hier im 19. Jahrhundert und postulierte, auf der Linie der Gedanken von Jean Jacques Russeau ein Jahrhundert zuvor, einen neuen und verantwortungsvollen Umgang mit der Natur. Hans Jonas hat dann im 20. Jahrhundert den von Karl Kardinal Lehmann zitierten „Ethischen Imperativ“ formuliert.

    Helmut Schatz

  2. Helmut Schatz sagt:

    Auch Swetlana Alexijewitsch, Literatur-Nobelpreisträgerin 2015 fordert einen Wandel im Denken: „Um zu überleben, müssen wir andere Menschen werden – mit einer anderen Philosophie“, sagte sie. Die Menschen dürften die Natur nicht länger als Selbstbedienungsladen ansehen, sondern müßten sie mehr achten

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