Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Kurzsichtigkeit durch verminderte Dopaminbildung im Auge bei zu wenig Licht? – Kinder sollen mehr ins Freie!


Bochum, 16. April 2015:

In „Nature“, einer der renommiertesten naturwissenschaftlichen Zeitschriften  berichtet am 19. März 2015  Elie Dolgin, ein Biologe und Genetiker, jetzt  Wissenschaftsjournalist aus Somerville, Massachusetts unter dem Titel „The Myopia Boom“ über die Kurzsichtigkeit (Myopie), welche epidemische Ausmaße angenommen hätte, vor allem in Südostasien, aber auch in den USA und in Europa (1). Als eine der Ursachen wird diskutiert, dass bei zu geringer Lichtexposition die Netzhaut des Auges vermindert den hormonellen Wirkstoff Dopamin produziere, welcher normalerweise das Längenwachstum des Augapfels hemmt und damit die Kurzsichtigkeit verhindert. Der Einfluss des Lichtes wurde durch Vermessen der Augäpfel von Hühnern gezeigt, die unter verschiedenen Lichtbedingungen gehalten worden waren (2).  Die Injektion des Dopamin-Antagonisten  Spiperone in das Auge der Hühner blockierte den schützenden Effekt von Licht vor einer Augapfelverlängerung (3).

Während vor etwa einem halben Jahrhundert nur 10-20% der Chinesen kurzsichtig waren, sind es jetzt bis zu 90%  der Adoleszenten und jungen Erwachsenen. In Deutschland liegt die Prävalenz heute bei etwa einem Viertel der Bevölkerung, für Hochschulabsolventen finden sich Zahlen über 50%.

Erbfaktoren spielen zweifellos eine Rolle, wie schon Zwillingsstudien ergeben hatten. Assoziationen der Myopie mit mehr als 100 Regionen des Genoms wurden bisher identifiziert. Zunehmend sind es heute aber Umweltfaktoren: Bei den Inuits (Eskimos) waren  1969 nur 2 von 131 Personen kurzsichtig,  jetzt sind es mehr als die Hälfte ihrer  Kinder und Enkelkinder. So schnell kann sich das Erbgut kaum verändert haben. Lange wurden zu viel Lesen und zu nahes Betrachten als (Mit-)Ursache vermutet. So wiesen in Israel  Schüler der Jeschiwas, der Thoraschulen,  welche während des ganzen Tages den Talmud studieren, viel höhere Mypopie-Raten auf als andere Schüler. Auch das Betrachten des Computerbildschirms mit stundenlangem Surfen oder das Smartphone wurden angeschuldigt. Dies dürfte aber, wie man meint (4),  nur einen geringen Einfluß auf die Myopieentstehung und –progression haben.

Auch zuwenig Licht beim Lesen oder Zwielicht wurde kausal angeschuldigt. So vermutete ein dem Referenten gut bekannter, hochgradig kurzsichtiger Biologe, der diesen Beitrag vorab las, dass sein Augenleiden bis zu den gefürchteten Komplikationen wie Netzhautablösungen, Netzhauteinrissen und Glaukom möglicherweise davon gekommen sei, dass er als Kind und Heranwachsender bis weit über Mitternacht oft beim schwachen Licht einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen habe, um seinen  im gleichen Zimmer schlafenden älteren Bruder nicht zu stören.

(Haupt-)Ursache der Entstehung und Progression der Myopie ist aber wohl nicht das Leseverhalten bei schlechten Lichtverhältnissen, sondern die ungenügende Exposition gegenüber dem Licht im Freien. In  Innenräumen erzielt man  nur wenige, maximal 500 Lux, im Freien etwa  10.000 – 100.000 Lux. Möglicherweise kommt im Freien noch ein weiterer Faktor dazu: Das Auge blickt über weitere Distanzen als in Innenräumen (5).  Das Licht wurde übrigens schon vor über 100 Jahren als ein wichtiger Faktor bei der Myopie angesehen. In einem alten Lehrbuch der Augenheilkunde kann man die Empfehlung lesen, sich  bei Kurzsichtigkeit lange im Freien aufzuhalten, etwa „auf Deck bei einer ausgedehnten  Seereise“.  Studienbelege für eine wichtige Rolle des Lichtes ergaben die im Jahre 2007 veröffentlichten Daten amerikanischer Ophthalmologen, die über 500 Schüler ohne Sehstörung ab einem Alter von 8-9 Jahren beobachtet hatten. Jedes 5. Kind war kurzsichtig geworden und als einziger Umweltfaktor dafür wurde das Ausmaß der Zeit gefunden, welche das Kind im Freien verbracht hatte (6). Ähnliche Resultate wurden an über 4000 Schülern in Australien erhoben (7). Eine etwa im Freien verstärkte körperliche Aktivität wurde als (Mit-)Ursache durch sorgfältige Analysen ausgeschlossen. In Guangzhou (Kanton) lief seit 2009 ein Versuch mit über 900 Schülern im Alter von 6-7 Jahren, um festzustellen, ob bei 40 min zusätzlichem Unterricht im Freien  während 3 Jahren weniger Myopien auftreten: In der Tat fand man im Alter von 9-10 Jahren in dieser Gruppe nur 30%, in den Kontroll-Schulen aber 40% kurzsichtige Kinder (1).

Die eingangs schon angeführten Untersuchungen an Hühnern (2) und Experimente mit N-Methylspiperone, einem Spiroperidol, als Dopamin-Hemmstoff (3) liefern eine pathophysiologische Erklärung für die Rolle des Lichtes, die durch Dopamin vermittelt werden könnte. Ähnliche Beobachtungen wie an den Hühnern wurden auch an Spitzhörnchen (Tupaia, den Primaten nahestehend) und Rhesusaffen gemacht (8).

Diese Befunde unterstützen die Forderung nach mehr Freizeitaktivität von Kindern und Jugendlichen in möglichst hellem Licht, also in der Phase, in welcher die Myopie entsteht und fortschreitet. Sie unterstreichen aber auch die große Bedeutung der Endokrinologie als integrative Disziplin, deren Bedeutung heute angesichts der schon großen und stetig wachsenden Zahl von bekannten Hormonen und Wirkstoffen gar nicht abzusehen ist.

Helmut Schatz

Literatur

(1) Elie Dolgin: The myopia boom. Nature 519, 276-278 (19 March 2015) doi:10.1038/519276a

(2) R. Ashby et al.: The effect of ambivalent illuminescence on the development of deprivation myopia in chicks.
Invest. Ophthalmol. Vis. Sci. 50, 5348-5354 (2009)

(3) R.S. Ashby, F. Schaeffel: The effect of bright light on lens compensation in chicks.
Invest.Ophthalmol Vis. Sci. 51, 5247-5253 (2010)

(4) S.M.Saw et al., Ophthalmology 109, 2065-2071 (2002)

(5) Ian Flitcroft, Dublin: zitiert von Elie Dolgin (Lit. 1)

(6) L.A. Jones et al., Invest. Ophthalmol Vis. Sci. 48, 3524-3532 (2007)

(7) K.A.Rose et al., Ophthalmology 115, 1279-1285 (2008)

(8) J.T. Siegwart et al., Invest.Ophthalmol. Vis. Sci. 53, 3457 (2012)

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Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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Eine Antwort auf Kurzsichtigkeit durch verminderte Dopaminbildung im Auge bei zu wenig Licht? – Kinder sollen mehr ins Freie!

  1. Helmut Schatz sagt:

    Die in der Übersichtsarbeit von Elie Dolgin (1) zitierte Studie an Schulkindern in Kanton (Guangzhou) ist nun im JAMA erschienen (Mingguang He et al., JAMA 2015. 314(11):1142-1148, doi:10.1001/jama.2015.10803). 952 Schulkinder aus 6 Interventionsschulen hatten 3 Jahre lang täglich 40 min zusätzlichen Unterricht im Freien erhalten, 951 Schüler aus 6 Kontrollschulen nicht. Primäres Outcome: Myopieraten: 30.4 vs. 39.5% (signifikant). Sekundäre Outcomes: Veränderungen der Linsenbrechung (spherical equivalent refraction) : -1.42D vs. -1.59D (Ssgnifikant). Im Unterschied zu der angenommenen Hypothese fand sich jedoch kein signifikanter Unterschied im zweiten sekundären Outcome-Parameter, der Elongation der Achsenlänge des Bulbus: 0.95 mm vs. 0.98 mm. Die Autoren schlußfolgern, daß nun weitere Untersuchungen an diesen Kindern nötig seien, bevor man das Konzept des Unterrichts im Freien generalisiert.

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