Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Philosophisch und poetisch: Gesundheit nach Friedrich Nietzsche und Schönheit im Werk von Raffaelo Santi


Wien, 7. Januar 2018:

Von Friedrich Nietzsche (1844-1900), dem klassischen Philologen und Philosophen stammt folgende Definition der Gesundheit: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen“. Ohne Nietzsches  Definition  gekannt zu haben, versucht der Referent ebenso wie gewiß viele Ärzte,  insbesondere den älteren und alten Patienten/innen klarzumachen, dass man zufrieden sein müsse, wenn man mit vielen der im Alter zunehmenden Beschwerden einigermassen erträglich leben könne. Kurz vor seinem Tode sprach der als früher sportlich hoch aktiv bekannte deutsche Politiker Heiner Geißler im Fernsehen darüber, dass er schon längere Zeit ständig  Schmerztabletten nehmen müsse und diesen Zustand ältere und alte Menschen in Deutschland ebenfalls akzeptieren sollten statt von Arzt zu Arzt zu laufen, immer noch in der Hoffnung,  wieder das „vollständige körperliche Wohlbefinden“  (s.u.) zu erlangen.

Die Gesundheitsdefinition der  Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1948 lautet nämlich: „Die Gesundheit ist ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen. Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen ist ein Grundrecht jedes Menschen, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung“ (1). Diese Formulierung stellt eine Maximal-Definition dar.  Gewiß wird dieser Zustand nur bei einem Teil der Menschheit vorliegen.  Man sollte ihn anstreben, wenn er auch oft nicht erreichbar sein wird. Ärzte sind keineswegs für alle sozialen, wirtschaftlichen und weiteren Probleme zuständig, wenn sie diese auch in ihrer ärztlichen Tätigkeit berücksichtigen sollten. Aus der WHO-Definition kann nicht, wie es oft geschieht, eine breite Anspruchshaltung gegenüber dem Staat und den Versicherungssystemen abgeleitet werden. Nach Kenntnis des Referenten hat die WHO ihre Definition von 1948 nicht aktualisiert oder revidiert – sie bleibt offenbar als Idealziel weiter gültig.

Einer ungemein poetischen,  völlig anderen Charakterisierung von Raffaelo Santi,  dem Schöpfer von Bildern vollkommener Schönheit, ,  konnte man bei der großen Raffael-Ausstellung in der Wiener Albertina begegnen. Giorgio Vasari schrieb über Raffael: „Bisweilen sendet der Himmel freigebig und liebreich einem einzigen Menschen den unendlichen Reichtum seiner Schätze, alle Anmut und seltene Gaben, die er sonst in langem Zeitraum unter viele zu verteilen pflegt. Das sieht man deutlich an dem ebenso herrlichen als anmutigen Raffael Sanzio von Urbino. ….Als die Natur durch die Hand Michelangelos von der Kunst besiegt war, schenkte sie Raffael der Welt“. Und auf der Oberkante seines Sarkophags im Pantheon von Rom kann man, nur mehr schwer entzifferbar,  das von Kardinal Bembo (in Latein) verfasste Distichon lesen: „Raffael Sanzio… dem herausragendsten und mit den Alten wetteifernden Maler: Wenn du dessen nahezu atmenden Bilder betrachtest, kannst du ein Bündnis der Natur und der Kunst leicht daraus ersehen……Der hier: Raffael ist´s, der die Schöpfernatur, da er lebte, fürchten ließ seinen Sieg, und da er starb, ihren Tod“.

 Warum diese zwei auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenpassenden Themen in einem Blogbeitrag gegenübergestellt werden? Weil den Referenten am heutigen, dem letzten Ausstellungstag in Wien die vielen Skizzen und Studienblätter als minutiöse Vorbereitung der in ihrer Schönheit unübertroffenen, anmutigen Gemälde Raffaels tief beeindruckt hatten und sich dabei die Frage aufdrängte, ob Schönheit und Gesundheit zusammenhängen. Jeder Mensch weiß natürlich, insbesondere auch jeder Arzt,  dass dies nicht der Fall ist. Auch der bekannte Ausspruch „Mens sana in corpore sano“ in den Satiren von Juvenal war von ihm ironisch und nicht ernst gemeint.

Den Referenten faszinierten die ins Philosophische gehende Definitionen der Gesundheit und die poetische Charakterisierung eines Künstlers und seiner Werke in ihrer Gegensätzlichkeit.

Helmut Schatz

Literatur

(1) Weltgesundheitsorganisation: Offizielle Definition 1948

(2) Raffael-Ausstellung Wien, Albertina, 29.9.2017 – 7.1.2018. https://www.albertina.at/ausstellungen

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Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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8 Antworten auf Philosophisch und poetisch: Gesundheit nach Friedrich Nietzsche und Schönheit im Werk von Raffaelo Santi

  1. Dr. Maxi Franz-Leitner sagt:

    Auch ich war von der Raffael-Ausstellung sehr beeindruckt. Als Gynäkologin interessierte mich speziell die Erklärung unseres Führers, wie die Florentinerinnen, Vorbilder für Raffaels Madonnen, ihre helle Haut und die hellen Haare erlangten und pflegten: Sonnenschutz durch breitkrempige „Florentinerhüte“ und Bleiweiß auf der Haut sowie Zitronensaft und Pferdeurin für das Haar. Ob der Urin trächtiger Stuten zufolge der konjugierten Östrogene da für den Haarwuchs, weniger für die Aufhellung besonders wirksam war?

  2. Was ist Gesundheit? Das ist eine alte und immer nur unbefriedigend beantwortete Frage.

    Am besten gefallen mir die Definitionen von René Leriche („La santé c‘est la vie dans le silence des organes“ – Gesundheit ist das Leben im Schweigen der Organe, 1936) und von George Canguilhem („La santé c’est une marge de tolérance des infidélités du milieu … La santé est un volant régulateur des possibilités de réaction“ – Gesundheit ist eine Marge an Toleranz gegenüber der Unverlässlichkeit der Umwelt … Gesundheit ist eine Sicherheitsreserve an Reaktionsmöglichkeiten, 1943). Canguilhem greift damit eine frühere Begriffsbestimmung von Kurt Goldstein auf („Wir haben gelernt, Veränderungen im gewissen Sinne als eine Notwendigkeit für das Gesundsein zu betrachten“, 1934) und er greift den späteren kybernetischen Gesundheitsdefinitionen vor.

    Canguilhems Werke waren lange fast vergessen, werden aber jetzt im Zuge der Allostaseforschung, die gerade auch für die Endokrinologie fundamentale Bedeutung hat, wieder entdeckt. Wer sich näher damit befassen möchte, sei auf das sehr lesenswerte Buch „Le normal et le pahtologique“ von George Canguilhem verwiesen. Es ist 2013 in der Edition Quadrige wieder aufgelegt worden (ISBN 978-2-13-061950-5).

  3. Klaus Ehrenberger sagt:

    Der hervorragende Blog zeigt zwei Ebenen auf: intellektuelle Gesundheitsdefinitionen, deren Parameter messbar sind, und das Staunen über das Genie (wenn sich der 2. Teil über Raffael auch auf die Schönheit bezieht). Die WHO-Gesundheit ist kein Garant für Genialität (Beispiele muss ich wohl nicht anführen), Parameterdefizite wiederum verhindern das Genie nicht (mir fallen im Moment nur ein paar Namen ein wie Augustinus, Blaise
    Pascal, Beethoven, der alte Haydn, Kurt Gödel, Stephen Hawking,Matisse, van Gogh etc.etcMan kommt aus dem Staunen nicht heraus.

  4. asklahre sagt:

    Diesen wohltuenden philosophisch-poetischen Gedanken zur Gesundheitsfrage füge ich gern meine Lieblingsdefinition hinzu, und zwar die des Medizinethikers Giovanni Maio: „Denn gesund ist nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner eigenen Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat.“

  5. Peter Spork sagt:

    Ich weiß ja nicht, wieso der vorgestern eingestellte Verweis auf meinen Blogbeitrag auf starke-meinungen.de zur Gesundheitsdefinition der WHO und zum hellsichtigen Gesundheitsbegriff Georges Canguilhems hier wieder verschwunden ist (eine E-Mail an mich mit einer Begründung hätte mich gefreut). Aber in der Annahme, dass es die Verlinkung war, erlaube ich mir, hier stattdessen den Beginn des Schlussworts meines Buches „Gesundheit ist kein Zufall“ (DVA, nominiert zum Wissensbuch des Jahres 2017 und zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2018) einzufügen. Ich hoffe, das ist ein willkommener Diskussiononsbeitrag:

    „Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert: „Gesundheit ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechlichkeit, sondern ein Zustand kompletten körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens“. Diese Definition ist schon deshalb unzureichend, weil Gesundheit kein Zustand ist – schon gar kein derart unerreichbar perfekter. Außerdem wird die Definition all jenen Menschen nicht gerecht, die sich aufgrund einer Behinderung [, ihres Alters], einer ererbten Genmutation oder anderer Einschränkungen nicht permanent wohlfühlen können oder möchten. Sind all diese Menschen wirklich nicht gesund? Will man ihnen ihre Gesundheit absprechen?
    Dass auch die Fachwelt sich unverändert schwer tut mit dem Gesundheitsbegriff, unterstreicht der Wissenschaftsautor Richard Friebe [im Buch „Hormesis“, Hanser] mit dem Hinweis auf ein Editorial der führenden Mediziner-Zeitschrift The Lancet aus dem Jahr 2009. Der dort zitierte Satz „Gesundheit ist die Fähigkeit, sich anzupassen“, löste wie der ganze Artikel erhebliche Diskussionen aus – dabei stammt der Satz aus der bereits 1943 erschienenen Dissertation des Franzosen Georges Canguilhem.

    Spätestens jetzt, dank der hier [im Buch „Gesundheit ist kein Zufall“, DVA] vorgestellten neuen Erkenntnisse, sollte eigentlich klar geworden sein, wie hellsichtig Canguilhems Definition war. Denn wir passen uns tatsächlich unentwegt an unsere Umwelt an. Molekularbiologische Strukturen in den winzig kleinen Kernen unserer Zellen reagieren auf Einflüsse von außen. Die Genaktivität in den Zellen wandelt sich, und schließlich frieren sie ganze Genaktivierbarkeitsmuster ein.
    So zahlen wir jeden Tag ein auf eine Art Gesundheits- oder Resilienzkonto. Von dem profitieren wir auch noch Jahrzehnte später. Doch damit nicht genug: Wir vererben Gesundheit und psychische Stabilität sogar. Unsere Kinder erhalten letztlich biologische Informationen über unseren Lebensstil und unsere Umwelt. Darunter sind wahrscheinlich sogar solche Informationen, die wir bereits von unseren Vorfahren geerbt hatten. Persönlichkeit und Widerstandskraft unserer Kinder gedeihen durch all die guten Dinge, die wir, die ganze Familie und manche Freunde ihnen in der Zeit um die Geburt schenken. Und zu guter Letzt prägt jede Generation im Laufe ihres Lebens ihre eigene Gesundheit ein Stück weit selbst.

    Wer wirklich gesund im Sinne der WHO sein möchte, der wird sein Leben in einer Art Gesundheitswahn verbringen. Vor lauter Zwang, den herbeigesehnten Zustand „kompletten Wohlbefindens“ zu erreichen, wird man sich alsbald wie ein Versager fühlen. Dieses System ist unfrei. Wer kann eine derartige Maximalforderung schon erreichen?
    Dabei geht es bei Gesundheit doch gar nicht um das Erreichen eines Zustands. Gesundheit ist kein Ziel, sondern ein Weg. Höhen und Tiefen gehören zu einem erfüllten Leben. Es ist ausgesprochen gesund, sich mal besser und mal schlechter zu fühlen. Gesundheit ist ein tagtäglicher Prozess, der uns in der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt verändert und prägt. Gesundsein heißt, dass es Veränderungen gibt – möglichst viele davon natürlich zum Guten.
    Wer das verstanden hat, geht viel entspannter mit der eigenen Gesundheit um. Denn unser geistiges wie körperliches Wohlbefinden ist aus dieser Perspektive ein komplexes Produkt unseres eigenen Lebens, unserer frühen Kindheit und des Lebens unserer Vorfahren. Es ist nicht abhängig von einzelnen Entscheidungen. “
    (Auszug aus Peter Spork: Gesundheit ist kein Zufall, DVA 2017; urheberrechtlich geschützt)

  6. Wenn jemand sich auf das Wort von Juvenal bezieht, dann sollte er das aber auch vollständig anführen. Es heißt „Ut mens sana in corpere sano sit“ – also: Möge ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnen“, das ist ein Wunsch. Und den Wunsch wird man doch wohl haben dürfen?

  7. Helmut Schatz sagt:

    Lieber Martin Steffe, hier also das Zitat im Zusammenhang: „..ut tamen et poscas aliquid voveasque… oran-
    dum est ut sit mens sana in corpore sano, fortem posce animum mortis terrore carentem,…“ ( „Damit du aber dennoch etwas zu erflehen hast, … solltest du um einen gesunden Geist in einem gesunden Körper beten, bete um mutigen Sinn, der sich nicht vor dem Tode fürchtet, …“). Juvenal kritisiert in dieser Satire den Menschen, der das Richtige oft nicht vom Falschen unterscheiden könnte und deshalb Wünsche an die Götter äußerte, die den Menschen selbst ins Verderben stürzten. Dabei nennt er Wünsche wie z.B. den Wunsch nach Reichtum, politischer Macht, Redekunst, Kriegsruhm, einem langen Leben und Schönheit. Er sieht zwei Lösungen für das Problem: Die Menschen sollten das Beten zu den Göttern unterlassen, da nur die Götter wüssten, was für den Menschen nützlich sei und sie ihm dieses dann auch zukommen lassen würden. Wer dennoch um etwas bitten möchte, der sollte um geistige und körperliche Gesundheit sowie „mutigen Sinn“ beten („…mens sana incorpore sano…“). Die Wendung wird meist missverstanden oder vorsätzlich falsch interpretiert. Die körperliche Ertüchtigung, die im Nationalsozialismus aus ideologischen Gründen eine zentrale Rolle spielte, stand unter dem verkürzt interpretierten Motto Juvenals.Heute propagieren verschiedene Mental-Berater immer wieder, dass intensives sportliches Training die intellektuelle Leistungsfähigkeit ganz signifikant steigere. Dies ist aber in dem Ausmaß nicht der Fall (wenn man heute auch annimmt, daß körperliches Training einem M.Alzheimer entgegenwirkt).
    Im Umkehrschluss heißt die verkürzt interpretierte Redewendung, dass in kranken und schwachen Körpern kein gesunder Geist innewohne. Eine derartige Analogie führt geradewegs in die Diskriminierung Körperbehinderter. Vor diesem Hintergrund lehnen die Interessenvertreter von Behinderten (Behindertenverbände) das „Mens sana in corpore sano“ vehement ab. Als Beispiel dafür, dass ein brillanter Wissenschaftler ein körperlich gebrochener Mensch sein kann, führen sie unter anderem Stephen Hawking an (aus: Wikipedia). Klaus Ehrenberger führt oben in seinem Kommentar eine Reihe weiterer Menschen mit Erkrankungen an, die trotz schwerer und schwerster Erkrankungen und Gebrechen Großartiges leisteten wie etwa der am Lebensende taube Beethoven. Den Wunsch, lieber Martin Steffe, darf man freilich haben!

  8. Johannes Bayer sagt:

    „Mens sana in corpore sano“ wird auch heute nach wie vor verkürzt und mißverstanden als Wahlspruch von Akademischen Turnerschaften und Studentenverbindungen verwendet.

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