Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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‚Selbstmord-Tourismus‘ in die Schweiz stark gestiegen


Graz, 23. August 2014:

Zwischen 2009 und 2012 hat sich die Zahl der Menschen, die in die Schweiz zum assistierten Selbstmord reisten, verdoppelt. Dies ergab eine Untersuchung des Instituts für Gerichtsmedizin der Universität Zürich (1). In diesem Zeitraum wurden in der Datenbasis des Instituts 611 Menschen, die nicht in der Schweiz ansässig waren, registriert. Die überwiegende Mehrzahl suchte Hilfe bei „Dignitas“, einer von sechs derartigen Gesellschaften (u.a. „Exit“) in der Schweiz.

Im Jahr 2009 waren es 86 Nicht-Schweizer, 2012 bereits 172. Ihr Alter lag zwischen 23 und 97 Jahren (Median 69 Jahre), mehr als die Hälfte waren Frauen. Fast die Hälfte (47%) litt an neurologischen Erkrankungen, insbesondere Parkinson und Multiple Sklerose, etwas mehr als ein Drittel (37%) hatte Krebs, ein Viertel (24%) rheumatologische Krankheitsbilder, 15% Herz-Kreislaufleiden, etwa 3% mentale Erkrankungen einschliesslich Demenz und 1% AIDS. Es waren somit überwiegend Menschen mit nicht-tödlichen Erkrankungen oder nicht im Endstadium einer Krankheit, die Sterbehilfe suchten. Davon litten 28% an mehreren Erkrankungen. Fast immer erfolgte der assistierte Selbstmord mit Pentobarbital. Die Menschen kamen aus 31 Ländern, etwa zwei Drittel davon aus Deutschland (286) und Grossbritannien (126), aus Frankreich kamen 66, Italien 41, USA 21, Österreich 14, Kanada 12, Spanien 8, Israel 8 und aus vielen weiteren Ländern.

Kommentar

Rechtlich unterscheidet man die passive Sterbehilfe (Unterlassung lebensverlängernder Massnahmen), die indirekte Sterbehilfe (Morphiumgabe bei Schmerzen), die Beihilfe zum Selbstmord (assistierte Sterbehilfe, etwa Bereitlegen einer Spritze mit aufgezogenem Pentobarbital, nicht aber deren Verabreichung) und die aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen). Die assistierte Sterbehilfe ist in der Schweiz straffrei, wenn keine selbstsüchtigen Gründe beim Beihelfer vorliegen und der Mensch seinen Tod letztlich selbst herbeiführt. Die Regelungen sind in anderen Ländern unterschiedlich.

Theologisch lehnen die katholische Kirche und die Evangelische Kirche in Deutschland ärztlichen Beistand zum Suizid übereinstimmend ab (2). Gleichwohl hat der weithin als Papstkritiker bekannte katholische Priester Hans Küng, der an Morbus Parkinson leidet und wegen einer Maculadegeneration kaum mehr sehen kann, in verschiedenen Medien bekanntgegeben, dass er Mitglied in einem Schweizer Sterbehilfeverein sei. „Ich habe nicht die Absicht, mich gleich zu verabschieden. Aber ich möchte bereit sein, das jederzeit zu tun“ (3).

Sterbehilfe wird manchmal „Euthanasie“ genannt. In Deutschland wird diese Bezeichnung wegen ihres Missbrauchs bei den Nationalsozialisten weitgehend vermieden und man steht dem gesamten Themenkomplex mit allen seinen Differenzierungen viel kritischer bis zumeist ablehnend gegenüber im Vergleich zu anderen Ländern wie etwa der Schweiz.

Helmut Schatz

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Literatur:

(1) S. Gautier et al.: Suicide tourism: a pilot study on the Swiss phenomenon.
J. Med. Ethics, published online August 20, 2014

(2) Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz „Gott ist ein Freund des Lebens“ aus dem Jahre 1989
www.ekd.de/EKD-Texte/44678.html

(3) Hans Küng: „Ich möchte bereit sei, das jederzeit zu tun“. Süddeutsche.de, 12. Oktober 2013.
www.sueddeutsche.de

Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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13 Antworten auf ‚Selbstmord-Tourismus‘ in die Schweiz stark gestiegen

  1. Wilhelm tell sagt:

    „In die Schweiz reisen“ („going to Switzerland“) ist in Grossbritannien zu einer euphemistischen
    Redewendung geworden, schreibt die NZZ online am 20.8.2014. Sie zitiert die Meinung, dass dieses Phänomen zu einer Rechtsanpassung in anderen Ländern, insbesondere in Deutschland, Grossbritannien und Frankreich führen wird. In England wuerde darüber schon politisch diskutiert.

  2. strumpfi sagt:

    Aus ethischen Gründen ist der Selbstmord auf Verlangen abzulehnen. Der Todeswunsch tritt auf, wenn der Betroffene in eine ausweglose Situation kommt, wenn er suizidal eingeengt wird. In solchen Situationen braucht es entsprechende Hilfestellung, wie Palliativstationen und Hospize. Es mangelt an solchen Betreuungseinrichtungen. Aus Erfahrung durch den oftmaligen Besuch in solchen Einrichtungen kann ich sagen, dass bei entsprechender „Symtombehandlung“ niemand nach einer Medikation verlangt die zum Tod führt. In solchen Einrichtungen kann das Lebensende in einer angenehmen Atmosphäre, wo die letzten Wünsche, soweit es möglich ist, erfüllt werden (Besuch von Angehörigen, Hund usw.) in Würde sterben.

  3. Medicus sagt:

    Natrium-Pentobarbital-Pulver wird bei DIGNITAS nach meinem Kenntnisstand aufgeloest in einem Trinkgefaess bereitgestellt und der Patient muss dieses selbst trinken

  4. Kind sagt:

    Ich kann die Ausfuehrungen von Strumpfi nur voll bestaetigen. Auf Palliativstationen herrscht eine ganz anderee. Atmosphaere als man sich meist vorstellt, wenn man nie eine besucht hat: gelassen ‚ entspannt, friedlich, harmonisch. Wie brauchen viel mehr dieser Strationen

  5. Helmut Schatz sagt:

    In Deutschland ist die Selbsttoetung nicht wie in der Schweiz geregelt: So ist die Beihilfe zum Selbstmord straffrei, wenn das Opfer den Tod letztlich selbst herbeifuehrt. Allerdings koennen ggf. anwesende Unterstuetzer wegen unterlassener Hilfeleistung nach Paragraph 323c StGB belangt werden, da sie zu Wiederbelebungsversuchen verpflichtet gewesen waeren. Nahe Angehoerige oder Aerzte koennen sogar wegen Totschlags durch Unterlassung bestraft werden. Aerzten verbietet darueber hinaus ihr Standesrecht in jedem Fall die Beihilfe zum Selbstmord. Auch nach dem Betaeubungsmittelgesetz, Paragraph 29, ,kann geahndet werden (Internet-Eintrag vom 23.2.2011). Das neuere Urteil des Verwaltungsgeerichtes Berlin siehteine liberalere Regelung vor.

  6. Klaus-Werner Wenzel sagt:

    Vielen Dank, Herr Kollege Schatz, dass Sie dieses tabuisierte Thema informativ dargestellt haben.

    Ich hoffe, dass die deutschen Ärzte-Gremien eine menschenwürdige, offene Regelung befürworten, zumindest wie sie in Deutschland bisher möglich ist. Im übrigen haben Ärzte, die ihren Patienten aus schrecklicher Not helfen, längst bessere Mittel als das nicht unbedingt ideale und ohnehin nicht mehr zu erhaltende Pentobarbital gefunden.

  7. Helmut Schatz sagt:

    Laut Bericht der Deutschen Presseagentur dpa vom 26. 8. 2014 wurde beim Institut für Medizinische Ethik in München ein Gesetzesvorschlag vorgelegt, nach dem Hilfe zum Selbstmord grundsätzlich strafbar bleiben soll. Ärzte sollen aber schwerstkranken Menschen ohne Heilungschancen unter strengen Voraussetzungen helfen dürfen. Mitautor des Entwurfs ist Jochen Taupitz, Direktor des Instituts für Medizinrecht der Universität Heidelberg-Mannheim. Im Jahr 2015 will der Deutsche Bundestag über eine Gesetzesreform bei der Sterbehilfe entscheiden.

  8. Abraham sagt:

    Der Gesetzesentwurf ist abzulehnen. Die Senioren-Union warnte, „Sterbehilfe zu einer ärztlichen Abrechnungsziffer“ zu machen.

  9. Wilhelm Tell sagt:

    Die Schweizer Organisation EXIT schreibt, die Studie der Uni Zürich vermittle ein verzerrtes Bild. Sie sei nicht repräsentativ für die Sterbehilfe für Ausländer in der Schweiz, da sie nur Fälle aus der Region Zürich betrachtet. Hätten die Studienautoren nicht den Zeitraum 2008-2012, sondern 2006-2012 gewählt, hätten sich konstante Fallzahlen ergeben. 2006 hatte DIGNITAS 195 Menschen, 2012 198 Menschen betreut, also liegt keineswegs eine Verdoppelung vor. Gesamtschweizerisch läge die Sterbehilfe für Ausländer seit Jahren konstant bei 220 Fällen.

    EXIT ist die älteste Gesellschaft, gegründet 1982 mit derzeit >65.000 Mitgliedern (für nur in der Schweiz Ansässige). Jahresbeitrag 45.- CHF, oder 900.- CHF auf Lebenszeit. Pro Jahr erhält sie etwa 2000 Anfragen auf Freitodbegleitung, effektiv wird diese bei etwa 300 mit Pentobarbital durchgeführt.

    DIGNITAS wurde 1998 etabliert, sie hat derzeit etwa 6000 Mitglieder. Im Jahre 2005 wurde eine Sektion Deutschland gegründet. Die Jahresgebühr beträgt 80.- CHF.

  10. Helmut Schatz sagt:

    Eben lese ich die Beobachtung des Fernseharztes Eckart von Hirschhausen, der für eine neue Reportage zwei Tage in einem Hospiz verbracht hatte (Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 14. September 2019): „Mich hat beeindruclkt, dass dort gegen die Erwartung keine durchgehende Grabesstimmung herrscht, sondern es viele herzliche und auch leichte Momentre gibt, die wir erleben und einfangen konnten. Vor allem hat mich berührt, mit welcher Liebe und Hingabe dort Ärzte, Pflegekräfte, Ehrenamtliche und Angehörige zusammenarbeiten, um der letzten Lebenspghase Würde und Fülle zu geben“.

  11. Frau P. sagt:

    Und wie sieht es aus, wenn die sterbewillige Person per Patientenverfügung alle lebensverlängernden Maßnahmen ablehnt?

  12. Helmut Schatz sagt:

    Passive und indirekte Euthanasie wird auf Intensivstationen wohl von allen Ärzten betrieben, wie ich im DGE-Blog geschrieben habe, d.h. Einstellen lebensverlängernder Maßnahmen bei infauster Prognose bzw. Gabe schmerzlindernder Medikamente wie etwa Opiate in höherer bis hoher Dosis auch wenn das Leben dadurch verkürzt wird. Heute hat dier Wille eines Patienten einen sehr hohen Stellenwert (siehe neueste Fassung des Genfer Gelöbnisses).

  13. Frau P. sagt:

    Vielen Dank. Meine Frage bezog sich mehr auf die Strafbarkeit bzw. Straffreiheit von Ärzten und Angehörigen, wie von Ihnenn geschrieben:

    „…Allerdings koennen ggf. anwesende Unterstuetzer wegen unterlassener Hilfeleistung nach Paragraph 323c StGB belangt werden, da sie zu Wiederbelebungsversuchen verpflichtet gewesen waeren. Nahe Angehoerige oder Aerzte koennen sogar wegen Totschlags durch Unterlassung bestraft werden…“

    Wenn es eine Patientenverfügung gibt, die alle lebensverlängernden Maßnahmen ausschließt, wieso müssten Ärzte und Angehörige evtl. mit so einem hohen Strafmaß rechnen?

    Auch hatte ich nicht die Intensivstation im Sinn, ich dachte an das „Sterbefasten“ (z.B. in den eigenen vier Wänden, im Heim oder andernorts).

    Ich habe es als Angehörige in einer Notsituation erlebt, dass die Patientenverfügung Vorrang hat, dafür bin ich sehr dankbar.

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