Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Warum sind autoimmun bedingte hormonelle Erkrankungen so häufig? Neue Antworten aus der Systemendokrinologie


Bochum, 3. Februar 2022

Organspezifische Autoimmunerkrankungen betreffen meist die hormonproduzierenden endokrinen Organe. Beispiele sind die Nebennierenrindeninsuffizienz (Addison-Syndrom), der Diabetes mellitus Typ 1 und die entzündlichen Schilddrüsenerkrankungen (M. Basedow, Ord- und Hashimoto-Thyreoiditis). Gerade die letzteren sind regelrechte Volkskrankheiten, und nicht selten sind die Betroffenen von mehreren Autoimmunerkrankungen zugleich betroffen [1, 2].

Warum sind gerade die endokrinen Organe so häufig von Autoimmunität betroffen? Eine neue Erklärung schlägt jetzt das Labor für Systembiologie von Uri Alon am Weizmann-Institut in Israel vor. Das Modell geht zurück auf die Theorie der dynamischen Kompensation (s. DGE-Blogbeitrag  vom 26.Januar2022). Dieses Prinzip sorgt für eine selbsttätige Bildung und Regeneration endokrin aktiven Gewebes [3], birgt aber das Risiko hormonproduzierender Tumoren in sich. Daher sind Mechanismen nötig, die die Tumorbildung verhindern. Hierzu zählen etwa die Glukosetoxizität und die zelluläre Seneszenz  (s. DGE-Blogbeitrag vom 26. Januar 2022) [4, 5]. Möglicherweise gibt es aber noch einen dritten Mechanismus: Auch das Immunsystem könnte nämlich eine bedeutende Rolle in der Eindämmung des Tumorwachstums spielen. Nach der neuen Theorie bilden hypersekretorische Mutanten, also veränderte hormonbildende Zellen, die schneller wachsen als Zellen in ihrer Umgebung, vermehrt Proteine des Sekretionspfades. Diese werden dann von zytotoxischen T-Zellen erkannt und vernichtet (Abbildung) [6]. Für dieses Prinzip haben die Forscher den Begriff autoimmune surveillance of hypersecreting mutants (ASHM, also Autoimmunüberwachung hypersekretorischer Mutanten) geprägt. Damit steht ein weiterer Mechanismus zur Verfügung, der autonom aktive Zellen frühzeitig eliminiert.

Allerdings kann dieses eigentlich nützliche Prinzip auf zwei Weisen scheitern: Zum Einen kann eine Unteraktivität der Immunabwehr zur Entwicklung autonomer Adenome führen, andererseits kann bei Überaktivität eine Autoimmunerkrankung resultieren, die große Teile des funktionell aktiven Gewebes vernichtet und schließlich zu einem Ausfall des endokrinen Organs führt.

Abbildung: Autoimmunerkrankungen betreffen häufig die Schilddrüse, die Betazellen und die Nebenniere (A). Die zugehörigen Regelkreise haben ein gemeinsames Muster, in dem das glandotrope Steuerhormon nicht nur die Funktion, sondern auch das Wachstum der Zieldrüse anregt (B, C) – anders als in den Organen, die selten von Autoimmunerkrankungen betroffen sind (E). Nach der Theorie verhindert die Autoimmunität die Ausbreitung hypersekretorischer Mutanten, die als Keimzellen autonomer Adenome wirken (D). Abbildung aus [6] (CC BY 4.0-Lizenz)

Kommentar

Die Theorie der Autoimmunüberwachung hypersekretorischer Mutanten liefert eine durchaus überzeugende Erklärung dafür, warum autoaggressive Erkrankungen endokriner Organe so verbreitet sind. Zugleich bietet sie ein weiteres Erklärungsmodell dafür, dass die dynamische Kompensation nicht häufiger zur übermäßigen Proliferation hormonbildender Zellen führt.

Offen bleiben noch die Grenzen des Scheiterns, also welche Bedingungen zu einer mangelnden Effektivität mit konsekutiver Entwicklung autonomer Adenome und welche zu einer zu starken Effektivität mit folgender Autoimmunerkrankung führen. HLA-Muster könnten hierfür eine entscheidende Antwort liefern. Die Integration molekularbiologischer und systembiologischer Erkenntnisse könnte künftig den Weg zu einer personalisierten Prävention bereiten.

J. W. Dietrich

Literatur

1. Mäkimattila S. Groop PH; FinnDiane Study Group: Every Fifth Individual With Type 1 Diabetes Suffers From an Additional Autoimmune Disease: A Finnish Nationwide Study.
Diabetes Care. 2020 May; 43(5):1041-1047. doi: 10.2337/dc19-2429. Epub 2020 Mar 5. PMID: 32139386.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32139386/

2. Szeliga A. Meczekalski B.: Autoimmune Diseases in Patients with Premature Ovarian Insufficiency-Our Current State of Knowledge.
Int J Mol Sci. 2021 Mar 5; 22(5):2594. doi: 10.3390/ijms22052594. PMID: 33807517; PMCID: PMC7961833.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33807517/

3. Karin O. Alon U.: Dynamical compensation in physiological circuits.
Mol Syst Biol. 2016 Nov 8; 12(11):886. doi: 10.15252/msb.20167216. PMID: 27875241; PMCID: PMC5147051.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27875241/

4. Karin O, Alon U.: Biphasic response as a mechanism against mutant takeover in tissue homeostasis circuits. Mol Syst Biol. 2017 Jun 26; 13(6):933. doi: 10.15252/msb.20177599. PMID: 28652282; PMCID: PMC5488663. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28652282/

5. Katzir I. Alon U.: Senescent cells and the incidence of age-related diseases.
Aging Cell. 2021 Mar; 20(3):e13314. doi: 10.1111/acel.13314. Epub 2021 Feb 8. PMID: 33559235; PMCID: PMC7963340.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33559235/

6. Korem Kohanim Y. Alon U.: Endocrine Autoimmune Disease as a Fragility of Immune Surveillance against Hypersecreting Mutants.
Immunity. 2020 May 19; 52(5):872-884.e5. doi: 10.1016/j.immuni.2020.04.022. PMID: 32433950; PMCID: PMC7237888.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32433950/

Publiziert am von Dr. Johannes W. Dietrich
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4 Antworten auf Warum sind autoimmun bedingte hormonelle Erkrankungen so häufig? Neue Antworten aus der Systemendokrinologie

  1. florian sagt:

    Das wusste ich gar nicht. Gut, dass man hier davon erfährt.

  2. Konstantin sagt:

    Wirklich informativ. So etwas ist total interessant!

  3. Andy sagt:

    Die Vortschritte in der Systemendokrinologie sind enorm. Vielen Dank für den Artikel.

  4. Tanja Glass sagt:

    Vielen Dank an den Autor dieses informativen Textes! Es ist wirklich ermutigend zu lesen, dass die Integration molekularbiologischer und systembiologischer Erkenntnisse möglicherweise zu einer personalisierten Prävention führen kann. Prävention spielt eine entscheidende Rolle für unsere Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen. Es ist großartig zu sehen, dass Forscher und Wissenschaftler an innovativen Ansätzen arbeiten, um Krankheiten frühzeitig zu erkennen und individuell angepasste Präventionsstrategien zu entwickeln. Ich bin zuversichtlich, dass diese Fortschritte uns auf dem Weg zu einer gesünderen Zukunft voranbringen werden!

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