Bochum, 7. März 2015:
In der öffentlich zugänglichen Berliner Veranstaltungsreihe „Forum Bioethik“ diskutierte der Deutsche Ethikrat am 25.Februar 2015 über „Modekrankheiten“ (1). Es wurde eingangs die Frage gestellt, ob es Krankheitsbilder wie etwa „Burn-out“ oder „Wechseljahre des Mannes“ als reale Krankheiten gibt oder man diese nur „erfunden“ hätte. Oder auch, ob soziale Probleme zu Krankheiten umgedeutet werden.
Michael Stolberg von der Universität Würzburg zeigte auf, daß es „Modekrankheiten“ im Lauf der Geschichte immer gegeben habe. Die Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung von Krankheiten sei stets unausweichlich vom jeweiligen historischen und kulturellen Hintergrund geprägt gewesen.
Gisela Schott von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft befasste sich eingehend mit dem seit 1992 existierenden Begriff des „Disease-Mongering“ (wörtlich: dem „Handel mit Krankheiten“, = der „Krankheitserfindung“). Sie übte heftige Kritik daran, dass man normale Lebensprozesse als medizinisches Problem definiere und dass neue Krankheitsbilder durch Werbemaßnahmen neu erfunden würden. Risiken würden zu Krankheiten gemacht, leichte Symptome zu Vorboten schwerer Erkrankungen. An den konkreten Beispielen einer Plakataktion zu „Migräne“ in den Berliner U-Bahnen, dem „Burn-out-Syndrom “ oder den „Wechseljahren des Mannes“, unterstützt von der jeweils entsprechenden Pharmaindustrie, demonstrierte sie, wie solche „Awareness-Kampagnen“ ablaufen. In ihrem Vortrag forderte sie die Politiker auf, „Disease Awareness Kampagnen“, die von den einschlägigen pharmazeutischen Firmen unterstützt würden, zu verbieten.
Theodor Schramme von der Hamburger Universität beklagte die drohende Erweiterung des Krankheitsbegriffes. Man unterscheide nicht zwischen der „Abwesenheit von Krankheit“ als Mindestkriterium für Gesundheit (negative Gesundheit) und der „idealtypischen, bestmöglichen Gesundheitsdisposition“ (positive Gesundheit).
In der Diskussion äußerte Lothar Weißbach, ehemaliger Chefarzt der Urologischen Klinik „Am Urban“ in Berlin und Mitglied der Stiftung Männergesundheit, dass die Orientierung von Entscheidungen über eine Behandlung allein an Laborwerten aus gesunden Menschen behandlungsbedürftige Patienten mache, ein grenzwertiger Befund zum Überbefund werde und eine Überdiagnose übertherapiert würde. Als die Urheber wurden in der Diskussion Pharmaunternehmen, medizinische Interessensverbände und PR-Agenturen bezeichnet, die neue Leiden erfänden und damit zu “Industrieprodukten“ machten. Nach Weißbach sollten sich die Ärzte in der „Kunst des Weglassens“ üben und manchmal auch von Therapien abraten.
Kommentar
In ähnlicher Weise wie der Deutsche Ethikrat hat sich am 23. Januar 2015 Ottmar Leiß im Deutschen Ärzteblatt geäußert, worüber im DGE-Blog vom 27. Januar 2015 über die Testosterongabe an Frauen nach dem Wechsel bei sexueller Unlust berichtet wurde (2). Dass ein über 6 Wochen hinausgehender schwerer Trauerzustand nach dem Tod eines Ehepartners, Elternteils oder Kindes nicht „normal“, sondern ein psychopathologischer Zustand sei, wie nach meiner Kenntnis jüngst von amerikanischen Psychiatern mit einer Krankheitsziffer festgeschrieben, liegt auf der gleichen Linie, nämlich normale Lebensumstände zu pathologisieren.
Die „Aufklärungs-Kampagne für Endokrinologie“ der DGE, die mit dem Lübecker DGE-Kongress im März 2015 anläuft, darf nicht mit den von Frau Gisela Schott zu Recht kritisierten „Awareness-Kampagnen“ verwechselt werden. Diese hat ein ganz andere Ziel, nämlich etablierte, wohl definierte endokrinologische Krankheitsbilder der Öffentlichkeit bekanntzumachen und die entsprechenden Patienten einer fachgerechten Behandlung durch die dafür am besten geeigneten Spezialisten zuzuführen.
Helmut Schatz
Literatur
(1)Deutscher Ethikrat: Pressemitteilung 02/2015.
http://www.ethikrat.org/
2) Helmut Schatz: Testosterongabe bei Frauen: Empfehlungen der Endocrine Society. Und: „Lustpillen“ aus dem Internet für Frauen.
DGE-Blogbeitrag vom 27. Januar 2015
Sehr geehrter Herr Prof. Schatz,
vielen Dank für Ihre klaren Worte!
Kennen Sie jemanden, der sich als Diabetologe dafür öffentlich stark macht, nicht so lange Mängel bei Diabetikern zu suchen, bis man/frau/sie endlich fündig werden?
Viele Grüße und einen energiereichen Frühling.
A. Kuhn
Liebe Frau Kuhn-Prinz, vielen Dank für Ihr Lob, über das ich mich besonders gefreut habe.
Zu Ihrer Frage: Diese verstehe ich nicht ganz: Was meinen Sie mit den „Mängeln“, nach denen frau/man so lange sucht?
Herzliche Grüße vom Schiurlaub aus der Steiermark!
Helmut Schatz