Bochum, 18. Juni 2016:
Ignaz Philipp Semmelweis, geboren in Budapest, ist heute weltweit bekannt als der „Retter der Mütter“. Er erkannte in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Wien die durch die Hände der untersuchenden Ärzte und durch Instrumente übertragenen Infektionen als Ursache des damals grassierenden Kindbettfiebers, an dem bis zu 15% aller Frauen bei der Geburt starben. Er verhinderte es durch Waschungen der Hände und der Geräte vor geburtshilflichen Eingriffen mit Chlorkalk. Rasch setzten sich seine Erkenntnisse und die von ihm propagierte Massnahme der Chlorkalkwaschung europa- und auch weltweit durch. Dies ist heute allen Medizinern geläufig. Kaum bekannt ist jedoch, wie und mit welchen Methoden viele seiner Fachkollegen, welche diese pathogenetische Erklärung der Puerperalsepsis nicht anerkannten, ihn zum Teil vehement, auch von Neid getragen bekämpften. Auf akademischem Boden machte man ihm immer wieder Schwierigkeiten. So verhinderte man seine Berufung auf den Lehrstuhl für Geburtshilfe an der Universität Wien, mit dem Argument fehlender Publikationen.
Georg Silló-Seidl, Gynäkologe aus Budapest, schildert in seinem Buch „Die Affaire Semmelweis“, basierend auf eigenen, aufwendigen Recherchen in Wiener und Budapester Archiven und direkt vor Ort diese Vorgänge mit minutiöser Genauigkeit (1). Das Buch liest sich wie ein medizinisch-akademischer „Krimi“. Jeder an Hochschulen tätige oder tätig gewesene Arzt wird erkennen, dass es heute oft auch nicht anders zugeht als damals. Im Hinblick auf die Nichtberücksichtigung bei der Neubesetzung des geburtshilflichen Lehrstuhls in Wien nach dem Tod seines ehemaligen Lehrers Klein wegen fehlender Publikationen schreibt Silló-Seidl auf Seite 111 des Buches (1):
„Als Beispiel führe ich die Verleihung des Nobelpreises an. Von 120 medizinischen Nobelpreisen (bis zum Jahr 1985, Anm.d.V.) wurden nur 18 für Entdeckungen vergeben, die praktische Erfolge erzielten. Das bedeutet im Klartext: In der Mehrzahl werden theoretische Forschungsergebnisse belohnt. Jedoch wird durch derartige Entdeckungen selten ein Menschenleben gerettet oder eine Krankheit geheilt.“
Am 9. Oktober 2013 schrieb der Referent im DGE-Blog über den „Nobelpreis für Medizin“. Er kritisierte dessen Vergabepraxis und die verkürzte, werbewirksame Bezeichnung in der Presse als „für Medizin“, anstelle korrekterweise „für Physiologie oder Medizin“ (2). In Kommentaren zu diesem Blogbeitrag wurde ihm zugestimmt (2).
Medizin soll in erster und vorderster Linie für den kranken Menschen da sein, oder dazu beitragen, Erkrankungen wirksam zu verhindern. Der Referent würde es begrüßen, wenn die Vergabe des „Nobelpreises für Physiologie oder Medizin“ ausgewogener als bisher auch klinisch wichtige und nicht nur theoretische Belange berücksichtigte.
Helmut Schatz
Literatur
(1) Georg Silló-Seidl: Die Affaire Semmelweis. Wien-München, Herold Verlag 1985
(2) Helmut Schatz: Ein Nobelpreis für „Medizin“?
DGE-Blogbeitrag vom 9. Oktober 2013
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Ein Freund machte mich auf den Begriff „Semmelweis-Reflex“ aufmerksam, geprägt vom Amerikaner Robert Anton Wilson. Damit beschreibt man laut Wikipedia, dass das wissenschaftliche Establishment eine neue Entdeckung ohne ausreichende Überprüfung erst einmal ablehnt und den Urheber eher bekämpft als unterstützt. Als ein weiteres typisches Beispiel gilt die erst nach Jahrzehnten, nach seinem Tode anerkannte Theorie der Kontinentalverschiebung von Alfred Wegener.