Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Die Zeit in der Musik


Bochum, 9. August 2016:

Im Sommerloch soll in unserem Blog wieder einmal ein „Blick über den Tellerrand“ erfolgen. Diesmal soll es ein Essay sein, den ich vor einiger Zeit geschrieben habe und an den ich mich am vergangenen Wochenende  erinnerte, als – wieder einmal, an zwei verschiedenen Klavierabenden – die Pianisten sehr laut und sehr schnell gespielt haben, wie es heute zu meinem Leidwesen üblich geworden ist. So wurde gestern die Sonate für 2 Klaviere in D-dur, KV 448 von W.A. Mozart  nach meinem Empfinden „prestißißimo herabgehudelt“, um Mozarts Worte zu gebrauchen, die er in einem Brief an seinen Vater vom 17. Januar 1778 verwendete, in welchem er sich über die Aufführung eines seiner Werke beklagte.

Nach den beiden Konzerten sprach ich mit den Veranstaltern und sagte, mir seien die Darbietungen zu laut und zu schnell gewesen. Ich bekam die Antwort,  das Empfinden der Zuhörer  sei – natürlich! –  unterschiedlich und die heutigen Pianisten würden dies Interpretationsform wählen, weil sie es so in ihrer Ausbildung gelernt hätten und das heutige Publikum dies so hören möchte.

 

Die Zeit in der Musik

„Klavierspielen ist ganz einfach. Man braucht bloß die richtigen Tasten  zur richtigen Zeit   herunterzudrücken“

 

Dieser Ausspruch,  Johann Sebastian Bach zugeschrieben, kann  streng genommen eigentlich erst seit der Erfindung des Metronoms, des „Zeitmessgeräts in der Musik“  im Jahre 1814 durch Johann Nepomuk Maelzel zutreffen.  Die Befolgung der Metronomzahlen als Zeitmaß für die Geschwindigkeit eines Musikstücks gilt heute vielen als absolut. Allerdings wurde die Interpretation der Metronomzahlen auch ernsthaft angezweifelt: Willem Retze Talsma schreibt in seinem Buch „Wiedergeburt der Klassiker. Band 1: Anleitung zur Entmechanisierung der Musik“, Innsbruck 1980, dass man bisher einem Irrtum unterlegen sei und die Metronomzahlen doppelt so rasch in der Wiedergabe als Zeitmaß genommen wurden als sie von den Komponisten gedacht waren. Ausübende Musiker meinen zudem heute zu dieser Problematik, dass ein Komponist ein Musikstück in seinem Kopfe anders konzipiere und innerlich höre als es dann der wiedergebende Künstler empfinde.

Jahrtausende lang existierten überhaupt keine Angaben oder Aufzeichnungen über Musikstücke, man spielte gemäß der überlieferten Musikpraxis.  Nur nach und nach gab es erste Ansätze von Noten: Im 11. Jahrhundert zeichnete Guido von Arezzo die „Neumen“ auf Linien auf: Diese sollen den Handbewegungen in der Luft entsprechen, mit denen man Melodien kenntlich machte. Seit dem 13. Jahrhundert gibt es die „Mensuralnotation“, welche die Länge bzw. Kürze von Tönen festlegte. Im 16. Jahrhundert versuchte man schließlich, für eine Note einen absoluten Wert in Sekunden zu notieren (z.B. 60-80 Semibreven = 1 Minute).

Lange Zeit, auch noch bei J.S. Bach, richtete man sich nach diesen  Notenwerten. Dann kamen Bezeichnungen hinzu, traditionellerweise auf italienisch, wie ein Stück gespielt werden soll. So bedeutet z.B. „Andante“ (“gehend“), dass der normale menschliche Schritt als ungefähres Zeitmaß dienen soll.

Maelzels Erfindung des Metronoms und das manchmal sklavische Befolgen der Metronomzahlen, mit einem möglicherweise wirklich doppelt so hohen Tempo wie vom Komponisten gedacht, hat die Musikwiedergabe verändert. Der deutsche Philosoph Sloterdijk sieht dieses gesteigerte Tempo bei der Musikwiedergabe nur als einen Teil der „selbstgezündeten Selbstbewegung“, wie sie sich in der allgemeinen Beschleunigung aller Lebensvorgänge zeigt. Man betrachte nur die Industriewelt oder die Verkehrsmittel mit „Hochgeschwindigkeitszügen“.  Zu dieser Beschleunigung sei es nach Sloterdijk erst durch das neue, lineare Zeitbewusstsein gekommen, welches im Gegensatz zum zyklischen Bewusstsein steht. Nach Sloterdijk sind die Konzertaufführungen der heutigen Virtuosen nur das hörbare Produkt dieser Entwicklung, also ein „Phänomen der reinen Mobilität“.

Folgt man der Theorie von Tasma, dass die Metronomzahlen als Zeitmaß der Musik heute doppelt so schnell interpretiert werden als vom Komponisten gedacht, so würde die Musikwiedergabe der letzten 150-200 Jahre vieles verschütten und unkenntlich machen, was von den Komponisten gedacht wurde. „Bach zügig, Mozart äußerst frisch, Beethoven geduckt dahinsausend (Joachim Kaiser 1975 über die Sonate Pathétique), Chopin und Liszt rasant“ – ist das wirklich die „richtige“ Wiedergabe klassischer Musik? Zumindest scheint sie dem Lebensgefühl unserer heutigen Zeit zu entsprechen: Musik muß schnell gespielt werden, ebenso wie Autos und Züge schnell fahren. Einzelne Künstler verweigern sich diesem Tempo. So spielte zum Beispiel der Wiener Pianist Friedrich Gulda vor einigen Jahrzehnten die Präludien und Fugen von J.S. Bach doppelt so langsam wie seine Zeitgenossen. Andere Musiker folgten auch diesem Beispiel. Heute allerdings scheinen die wiedergebenden Künstler erneut von der Geschwindigkeit berauscht zu werden. Zumindest die meisten Zuhörer verlangen dies so.

Wolfgang Amadeus Mozart beklagte sich schon im 18. Jahrhundert über viel zu hohe Spielgeschwindigkeiten seiner Stücke und schrieb am 17. Januar 1778 an seinen Vater:

„Abbé Vogler hat mein Concert…….prima vista herabgehudelt, das erste stuck gieng Prestißimo, das Andante allegro und das Rondo wahrlich Prestißißimo…… sie können sich leicht vorstellen, das es nicht zum ausstehen war……viel zu geschwind“.

Vielleicht kommt wieder einmal eine Zeit der „Entschleunigung“ auch  in der Musikwiedergabe. Gewiß würde man dann viele verborgene Details und Schönheiten hören können, die heute im Geschwindigkeitsrausch untergehen müssen.

Helmut Schatz

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Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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2 Antworten auf Die Zeit in der Musik

  1. Klaus Sticken sagt:

    Zum Ermitteln eines geeigneten Tempos für ein konkretes Stück kann man darin charakteristische Stellen suchen, die aus musikalischen oder technischen Gründen nur bis zu einem bestimmten Minimal- oder Maximaltempo ausführbar sind. Mithilfe mehrerer solcher Stellen kann man in der Praxis ein gutes Tempo erstaunlich exakt eingrenzen und dann auf den gesamten Satz anwenden. An der von Ihnen dargestellten Theorie habe ich aber meine Zweifel – sie klingt mir doch zu simpel.

  2. Helmut Schatz sagt:

    Heute spielen Pianisten für mein Empfinden meist zu schnell und auch zu hart und laut. Mozarts Meinung über das „Herabhudeln“ habe ich oben zitiert. Hier zwei Ansichten aus der Schubert-Zeit zum Anschlag: Albert Stadler, ein Freund von Schubert, schrieb über dessen Klavierspiel:“ …Er gehörte noch zur alten Schule der guten Klavierspieler, wo die Finger noch nicht wie Stoßvögel den armen Tasten zu Leibe gingen…“. Schubert selbst schrieb in einem Brief an seine Eltern am 25. Juli 1825: “ ….weil ich das vermaledeyte Hacken, welches auch ausgezeichneten Clavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann, indem es weder das Ohr noch das Gemüth ergötzt“.

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