Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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„Digitale Zwillinge“ in der Medizin


Bochum, 17. November 2024:

Bei einem Gespräch mit Mitarbeitern des Klinikums der  Medizinischen Universität meiner Heimatstadt Graz hörte ich, dass an der Grazer Technischen Universität am „Digitalen Zwilling“ des individuellen  Menschenherzens geforscht werde.

Ich informierte mich über das mir noch recht neue Konzept des Digitalen Zwillings (1). Die Idee vom „virtuellen Zwilling“ des menchlichen Herzens ist aber keineswegs neu, wenn es auch mehreren von mir befragten Kardiologen nicht, nur dem Namen nach oder flüchtig bekannt war. Schon vor über zwei Jahrzehnten begann auch in  Graz der Biophysiker Gernot Plank vom Institut für Biophysik der Med-Uni Graz mit Forschungen auf diesem Gebiet (2).  Das Konzept wurde Anfang des 21. Jahrhunderts von M.Grieves und J.Vickers entwickelt. Es setzt sich aus drei Hauptquellen zusammen: 1. den physischen Produkten im „realen Raum“, 2. den virtuellen und digitalen Produkten im „virtuellen Raum“ und 3. den Daten- und Informationsverbindungen zwischen den beiden. Führend im digitalen Zwillingskonzept ist das virtuelle Objekt, dem das reale Objekt folgen bzw. sich anpassen muss.

Das Konzept des digitalen Zwillings wird vielfältig eingesetzt, so in der industriellen Fertigung von technischen Produkten, der Transportwirtschaft, der Produktions- und Auftragssteuerung, der Stadtentwicklung, und auch in der Medizin.

Sportwissenschaft: Ein digitaler Zwilling des Herzens wurde von Dr. Srinivasan Jayanraman entwickelt. Er hat das Herz der US-Marathonläuferin Desiree Linden nachgebildet. Ihr digitalisiertes Herz kann nun in Echtzeit mit Daten gespeist werden und Informationen zur Herzfunktion und Reaktion etwa auch auf äußere Einflüsse liefern. Dies ist für die Sportwissenschaft von großer Bedeutung.

Für die generelle Gesundheitsversorgung  werden digitale Zwillinge wichtig werden. Hier stellt die virtuelle Repräsentation menschlicher Organe eine außerordentliche präzisionsmedizinsche Innovation dar. Das digitale Zwillingsherz wird vielfach als  „Durchbruch für die Kardiologie“ bezeichnet.

So forschen am digitale Zwillingsherzen das Universitätsklinikum Heidelberg zusammen mit Siemens Healthineers und  die Technische Universität Graz.  Herzschwächen sollten damit zukünftig medikamentös oder auch  technisch, etwa durch Schrittmacher  besser behandelt werden können, und Operationen besser planbar werden. Chirurgische Eingriffe bei Herzkrankheiten stellen meist große und zeitintensive Operationen dar, die intensiver Vorbereitung und maximaler Präzision bedürfen Die OP-Simulation ist eine vielversprechende Chance zur Steigerung des Therapieerfolgs. Mittels digitaler Zwillingsherzen können Eingriffe erprobt und Risiken sowie Unsicherheiten vorab gesenkt werden.

Das digitale Zwillingsherz, das aktuell noch nicht in der Regelversorgung zugelassen ist, sondern noch erforscht wird, verkörpert verschiedene neue Technologien. Über Big Data werden diagnostische Daten über das reale Herz gesammelt, und zwar im Rahmen klinischer Routineuntersuchungen wie EKG ohne viel Zusatzarbeit, und in den digitalen Zwilling eingespeist. Mittels Machine Learning wird das digitale Herz an seinen Zwilling angepasst, indem zum Beispiel aus Bilddaten die anatomische Struktur herausgearbeitet wird. Die komplexe Technologie erfordert die Berechnung von Millionen Variablen mithilfe spezieller Algorithmen und spezieller Hardware. An der detailgetreu nachgebildeten virtuellen Kopie kann folglich ohne Gefahr für den Patienten ein Eingriff geprobt und getestet werden.

Auch wenn die Experten wie die aus Graz Chancen sehen, dass in der Klinik schon bald Prototypen des digitalen Zwillingsherzens getestet werden könnten, ist noch Forschung erforderlich.  Die Methode der Simulationstechnologie wird bereits durch ein Start-up vertrieben und von großen Medtech-Firmen weiterentwickelt.

Das Prinzip des digitalen Zwillingsherzens könnte auch auf weitere Organe angewendet werden wie eine digitale Zwillingsleber, und auch die gesamte Repräsentation des Menschen durch einen digitalen Zwilling ist zukünftig denkbar.

Auch in der Endokrinologie & Diabetologie werden virtuelle Techniken bereits  erprobt: So wird das Prinzip der modellprädikativen Regelung (MPC) in modernen closed-loop-Insulinpumpen verwendet (3). Digitale Zwillinge werden  für die Erforschung der Stoffwechselvorgänge, insbesondere bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes eingesetzt (4) Und für die Hypothyreose wurde auch schon ein MPC-Modell entwickelt (5).

Helmut Schatz

Literatur

(1) Wikipedia: Digitaler Zwilling. Bearbeitet am 9. August 2024.
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Digitaler_Zwilling

(2) Die Presse (Wien): Forscher entwickeln digitalen Zwilling von individuellem Menschenherzen. 22. Januar 2021

(3) Dorothee Deiss et al.: Steckbriefe fürs Systeme zur automatisierten Insulin-Dosierung.
Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 31, Heft 1, 2022

(4) Clara Mosquera-Lopez, Peter G. Jacobs: Digital twins and artificial intelligence in metabolic disease research (Review).
Trends in Endocrinology & Metabolism, June 2024, Vol.35, No. 6

(5) Tobias M. Wolff, Johannes W. Dietrich, Matthias A. Müller: Optimal Hormone Replacement Therapy in Hypothyroidism – A Model Predicted Control Approach.
Front. Endocrinol. June 2022, Vol. 13, Article 884018

Posted on by Prof. Helmut Schatz
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