Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Gleichgewicht und Sturzerkrankung im Alter – hilft ein modischer Spazierstock?


Kürzlich führte ich mit meinem  Grazer Schulfreund Klaus Ehrenberger, emeritierter Vorstand der HNO-Klinik der Universität Wien, ein Gespräch über den mit zunehmendem Alter schwindenden Gleichgewichtssinn  und die sich häufende „Sturzerkrankung“. Er leistete dankenswerterweise meiner Bitte Folge, den Inhalt unseres Gesprächs für den DGE-Blog als „Blick über den Tellerrand“ niederzuschreiben.

Ehrenrettung des Spazierstocks

Wien, 4. April 2018:

Aus welchen Gründen auch immer, die Natur entschied: der Mensch gehe aufrecht!  Die erfolgreiche Umsetzung dieses Imperatives erfordert ein hochkomplexes Gleichgewichts- und Orientierungssystem, basierend auf der zentralnervösen Interaktion vestibulärer, visueller und somatosensorischer Informationsflüsse, die eine Kaskade korrigierender muskulärer Bewegungen auslöst, um die aufrechte Position zu garantieren. In der Natur weitverbreitete hochsensible akustische (Echolot der Fledermäuse) und chemotaktische (Schmetterlinge bis Hunde) Orientierungshilfen stehen in diesem Zusammenhang beim Menschen eher im Hintergrund.

Die drei für die Balance verantwortlichen Sinneskanäle haben unterschiedliche Zeitskalen, sind aber so effizient zentralnervös verschaltet, dass ausgefallenste artistische Leistungen entgegen der Schwerkraft  möglich sind. Teilweise Ausfälle eines Kanals können von den anderen beiden Kanälen kompensiert werden: ein Paradebeispiel eines selbstregulierenden, komplexen, biologischen Systems.  Damit das System die Umwelt wahrnimmt, muss der Körper stets in ganz leichter Bewegung sein. Selbst die scheinbar ruhigste Körperstellung baut auf ruckartigen, minimalen, stochastischen Körper- und Augenbewegungen auf, die sich mit einer empfindlichen Kistlerplatte und im Elektronystagmogramm nachweisen und den Körper auf alltägliche Hindernisse reagieren lassen.

Mit zunehmendem Alter nimmt die Zuverlässigkeit des Systems ab, die Schwankungen nehmen zu und gehen allmählich in ein Pendeln über. Pendelt der Körper in Richtung eines unerwarteten Hindernisses, droht Stolper- oder Sturzgefahr: ein klassisches Altersproblem („Sturzkrankheit“). Das Orientierungssystem lässt sich mit technischen Hilfsmitteln trainieren. Bewusste Trainingsprogramme beginnen schon im Kindesalter, z.B. Stützräder am Fahrrad, bis zu den langen Balance-Stangen von Seiltänzern, die wertvolle Zusatzinformationen über die Gestaltung des Raumes angeben, die in die komplexe ZNS-Systemarithmetik zur Aufrechterhaltung der Orientierung einfliessen. Bewegungsintensive sportliche Betätigungen fördern diesen Trend.

Dennoch, ab dem ca. 80. Lebensjahr nimmt die Sturzgefahr mit allen ihren gesundheitsbedrohlichen Folgen zu. Bewegungstraining scheitert vielfach an Willen und Können, sodass vermehrt auf altersgerechte Hilfsmittel zurückgegriffen werden muss, um Stürze zu vermeiden. Komplizierte, gut gemeinte Orientierungshilfen wie stochastisch vibrierende Schuheinlagen zur Stimulation der Somatosensorik oder optokinetische bildschirmgesteuerte Stimulationen der Augenbewegungen haben sich beim Zielpublikum nicht durchgesetzt.  Krücken und Rollator sind orthopädische Rehabilitationsgeräte oder – schlimmer – Vorboten des Rollstuhls. Für rüstige 80jährige ist der Stock das einfachste und bewährteste Sturzprophylaktikum für den aufrechten Gang durch den Alltag.

Der Stock hat zwei wesentliche Funktionen: er gibt im Bedarfsfall Halt als Stütze und ist unverzichtbares Tastinstrument, um Informationen über den Zustand des Umweltkriteriums Fussboden an den somatosensorischen Sinneskanal des Orientierungssystems weiterzuleiten. Der Stock gibt mechanisch und sensorisch Halt. Der Stock hat allerdings im öffentlichen Bewusstsein einen schweren Stand. Er gilt als altmodisch und widerspricht gängigen Fitnessvorstellungen. Demnach sind Stürze „Kollateralschäden“ des Jugendlichkeitswahns. Geben wir doch dem Stock die gesellschaftliche Wertigkeit wieder zurück, die er bereits einmal hatte – um den Zeitgeist nicht allzusehr zu kränken,  in Form eines ansprechend gestalteten Mode-Accessoirs.

Die Renaissance eines eleganten Spazierstockes würde dazu wesentlich beitragen, persönliches Leid und Kosten für die Allgemeinheit zu reduzieren.

Univ.-Prof. (emer.) Dr. med. Klaus Ehrenberger
Ehem. Vorstand der HNO-Universitätsklinik Wien

Literatur:

Thurner, St., Mittermaier,Ch., Ehrenberger, K. : Change of Complexity Patterns in Human Posture during Aging.
Audiol Neurootol 2002;7:240-248

Binczek, N. Kontakt: der Tastsinn in Texten der Aufklärung.
Verlag Niemeyer, Tübingen, 2007

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Publiziert am von Prof. Klaus Ehrenberger
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2 Antworten auf Gleichgewicht und Sturzerkrankung im Alter – hilft ein modischer Spazierstock?

  1. dr. helmut kiendl sagt:

    bezüglich der verwendung eines stocks habe ich eine andere meinung:
    bei meinen zwei vor zehn jahren durchgeführten hüftoperationen habe ich hinsichtlich der verwendung von stützen meine eigenen erfahrungen gemacht.
    ich habe nach der op von beginn an keine stützen verwendet, sondern mich an geländern und einrichtungsgegenständen im krankenhaus bzw. in der reha fortbewegt. dabei fühlte ich mich wesentlich sicherer als mit einer stütze. ich halte letzteres sogar für gefährlich, weil ich auf unterschiedlichen bodenbelägen ausrutschen kann. die stütze bietet nicht den erhofften halt, sondern ist häufig selbst auslöser für einen sturz. deshalb hat für mich die verwendung des stocks allenfalls eine psychologische wirkung.

  2. Helmut Schatz sagt:

    Für die oben geschilderten Systeme zur Erhaltung des Gleichgewichts sind in den Basalganglien des Gehirns der Nucleus ruber, die Substancia nigra und als Koordinator der auch sensomotorischen Signale über das extrapyramidale System die Formatio reticularis zuständig. Diese Funktionen können im Alter, ab etwa 75-80 Jahren nicht mehr so wie früher integriert werden, wodurch es, wie Klaus Ehrenberger schön darstellt, zur „Sturzerkrankung“ bei alten Menschen kommt

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