Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Glycowohl bei Diabetes – heftig beworben in den deutschen Zeitungen


Bochum, 22. Mai 2021

Auf dem virtuellen Deutschen Diabetes-Kongress 2021 hielt Prof. Ingo Rustenbeck, Pharmakologe aus Braunschweig, einen Vortrag über Glycowohl, einen  Extrakt aus den essbaren Früchten des indischen Jambulbaums (Syzygium cumini), auch Jambolanapflaume, Rosenapfel oder Wachsjambuse genannt. Die rezeptfreien Präparate werden zur Zeit in ganzseitigen Anzeigen auch in der Allgemeinpresse bei Zuckerstoffwechselstörungen beworben. Viele Ärzte, mit denen ich sprach, befürchten, dass Diabetes-Patienten jetzt Glycowohl nicht nur zusätzlich, sondern  anstelle des von ihnen verordneten Antidiabetikums einnehmen würden. Ähnlich war dies vor Jahren mit Zimt der Fall gewesen. Darüber wurde im DGE-Blog referiert, und auch dass über 400 Pflanzen mehr oder minder stark blutzuckersenkende Eigenschaften aufweisen, die pharmakologisch nicht auf Wirksamkeit und Sicherheit untersucht sind. Nach dem Vortrag bat ich Prof. Rustenbeck, sein fundiertes Referat in gekürzter Form dem DGE-Blog zur Verfügung zu stellen.

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Was ist Glycowohl? Homöopathikum, Phytotherapeutikum, Antidiabetikum?
Ingo Rustenbeck
Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Klinische Pharmazie, Technische Universität Braunschweig

In einer Printmedien-Werbekampagne des Glycowohl-Herstellers, die sich an die Apotheken richtet, wird Glycowohl als „modernes OTC-Phytotherapeutikum“ (OTC = over-the-counter = rezeptfrei) beschrieben, dessen Wirksamkeit durch Studien belegt sei. In der Internet-basierten Werbung wird darüber hinaus suggeriert, dass Glycowohl oft auf ärztliche Empfehlung eingenommen werde und sich dadurch nachweislich die Stoffwechsellage bessere. Letztere Aussage wird dabei auf eine prädiabetische Stoffwechsellage bezogen, denn ein besonderes Augenmerk wird in der Glycowohl-Werbung auf die angebliche Diabetes-präventive Wirkung gelegt. Die Einnahme von Glycowohl soll also nicht nur den Blutzuckerspiegel senken können, sondern soll zusätzlich die „Bauchspeicheldrüse schützen“.

In der Tat reflektieren diese Werbeaussagen die Diskussion in der Forschung, welchen Einfluss die unterschiedlichen Wirkprinzipien der blutzuckersenkenden Arzneimittel auf die funktionelle Betazellmasse haben. So wurde durchaus diskutiert, ob die Sulfonylharnstoffe den Verlauf des Typ 2 Diabetes ungünstig beeinflussen, indem sie zu einer relativen Überstimulation des Insulinsekretion führen (1), und umgekehrt richteten sich Hoffnungen auf die Apoptose-hemmende Wirkung von GLP-1 Rezeptoragonisten (2). Auch der mögliche Nutzen einer Chemoprävention, d.h., der Ansatz, durch eine Pharmakotherapie die Manifestation einer Erkrankung zu verhindern, ist in Bezug auf den Typ-2-Diabetes diskutiert worden, es sei hier an die Stop-NIDDM-Studie erinnert, in der die präventive Wirkung von Acarbose geprüft wurde (3).

Als am stärksten wirkendes Argument in der Glycowohl-Werbung wird aber der Hinweis auf den Status als behördlich zugelassenes Arzneimittel aufzufassen sein. Bei genauer Betrachtung der Werbung ist eine Evolution der Information im Lauf der letzten zwei Jahre zu erkennen. War der Text zunächst: „Homöopathisches Arzneimittel bei Stoffwechselerkrankung (Zuckerkrankheit)“ so ist in der Internet-basierten Werbung jetzt als „Pflichttext“ u.a. zu lesen: „Die Anwendungsgebiete leiten sich von den homöopathischen Arzneibildern ab. Dazu gehört: Verwendung als Zusatzmittel bei Zuckerkrankheit“. Insofern ist zunächst zu fragen, was ein homöopathisches Arzneibild ist und welche Kriterien der Zulassung von homöopathischen Arzneimitteln zugrunde liegen.

Hierzu läßt sich auf der website des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Folgendes lesen: „Ausgehend von einem Wissenschaftspluralismus auf dem Gebiet der Arzneimitteltherapie sieht das Arzneimittelgesetz (AMG) ausdrücklich die Berücksichtigung spezifischer Aspekte der Besonderen Therapierichtungen vor. Hierzu wurden durch den Gesetzgeber spezielle Kommissionen (Kommission C für anthroposophische Arzneimittel, Kommission D für homöopathische Arzneimittel und der Kommission E für pflanzliche Arzneimittel) eingerichtet, die medizinischen Sachverstand der jeweiligen Therapierichtung in die Arbeit des BfArM einbringen“ (4).

Eine Zulassung als Arzneimittel der Besonderen Therapierichtungen kann also nach anderen Kriterien geschehen als sie sonst für die Zulassung von Arzneimittel anzuwenden sind. Dabei können die Kriterien, auf die sich die Kommission E einigt, durchaus andere sein als diejenigen, die von der Kommission D verwendet werden. Bezüglich der homöopathischen Arzneimittel kann die Zulassung von der bloßen Registrierung unterschieden werden. Die Registrierung ist nicht mit der Angabe eines Anwendungsgebiets verbunden und benötigt dementsprechend keinen Wirksamkeitsnachweis. Die Zulassung dagegen ermöglicht die Angabe eines Anwendungsgebiets, bedarf jedoch eines Wirksamkeitsnachweises. Tatsächlich ist die in Glycowohl enthaltene Zubereitung ein solches zugelassenes homöopathisches Arzneimittel (5).

Der erwähnte Wirksamkeitsnachweis ist jedoch ausreichend, wenn er nach den innerhalb der Besonderen Therapierichtung anerkannten Maßstäben erfolgt. In der Homöopathie ist das Arzneibild ausschlaggebend. Das Arzneibild wird ermittelt, indem ein (oder mehrere) gesunder Prüfer (Proband) sich eine potentielle Arzneisubstanz zuführt und die eintretende Symptomatik notiert. In der Anamnese wird dann versucht, möglichst umfangreich die Symptomatik des Patienten zu ermitteln, um dann ein Arzneibild zu finden, das dem Krankheitsbild möglichst genau entspricht. So kann Insulin D8 (108-fache Verdünnung) nach homöopathischer Vorstellung und mit Zulassung durch das damalige BGA (jetzt BfArM) dafür verwendet werden, „Schwächezustände und Schweißausbrüche einige Stunden nach Nahrungsaufnahme“ zu therapieren (6).

Es ist jedoch nicht zwingend notwendig, dass eine solche Verdünnung vorgenommen wird, auch die Ausgangslösung, die sog. Urtinktur kann nach homöopathischer Vorstellung wirksam sein. Die in Glycowohl enthaltene Urtinktur wird durch Extraktion von einem Teil pflanzlicher Bestandteile mit 10 Teilen Ethanol hergestellt, kann also durchaus pharmakologisch wirksame Inhaltsstoffe in relevanter Konzentration enthalten: Insofern kann Glycowohl theoretisch auch als Phytotherapeutikum angesehen werden. Die pflanzlichen Bestandteile müssen von Syzygium cumini (synonym auch Eugenia jambolana) stammen. Es handelt hierbei sich um eine Laubbaumart aus der Familie der Myrtengewächse, die eines tropischen Klimas bedarf. In Indien wird sie wegen der Früchte (black plum), als Schattenbaum für Kaffeepflanzungen sowie wegen traditioneller medizinischer Anwendungen kultiviert.

Früchte des Jambulbaumes

Daher gibt es eine Reihe von Publikationen zu den Wirkungen der verschiedenen Zubereitungen von Eugenia Jambolana, deren Ursprung zu allermeist Indien ist. Die in der Glycowohl-Werbung aufgeführt Studie von Vikrant et al. (7) ist im Journal of Ethnopharmacology zu finden, einem in pubmed gelisteten referierten Journal. Der Abstract sagt aus, dass unterschiedliche Dosen von wässrigen und alkoholischen Extrakten aus Momordica charantia (Bittermelone bzw. Bittergurke) und Eugenia jambolana getestet wurden, wobei die am höchsten konzentrierten wässrigen Extrakte beider Pflanzen effektiv waren, die durch Fructose-Fütterung bedingte Insulinresistenz und Hyperglykämie von Ratten zu vermindern (7). Was im Umkehrschluß bedeutet, dass die weniger stark konzentrierten wässrigen Extrakte und auch die gesamten alkoholischen Extrakte unwirksam waren. Nun ist die Urtinktur in Glycowohl ein alkoholischer Extrakt und insofern kann die Studie von Vikrant et al. nicht zum Beleg der Wirksamkeit herangezogen werden.

Auch bei weiterer Durchsicht der in pubmed gelisteten Literatur bestätigt sich die Schlußfolgerung eines umfassenden Reviews  von Yeh GYX et al. (8) über antidiabetische Wirkungen von Phytotherapeutika und Nahrungsergänzungsmitteln, dass die außerordentliche Vielfalt der Zubereitungen und Testverfahren gesicherten Aussagen zur Wirksamkeit im Wege steht (8). An dieser Stelle ist aber zu betonen, dass die Zulassung von Glycowohl nicht über die für Phytotherapeutika zuständige Kommission E gelaufen ist, sondern über die Kommission D für homöopathische Arzneimittel. Die naturwissenschaftliche Datenlage ist für die Zulassung und das Anwendungsgebiet also letztlich belanglos. Das wird durch die folgende Aussage des BfArM reflektiert: „Bislang wurde jedoch noch kein homöopathisches Arzneimittel durch das BfArM zugelassen, bei dem sich der Antragssteller auf eine zum Beleg der Wirksamkeit geeignete Studie berufen hätte“ (9).

Insgesamt ergibt sich folgendes Fazit:

Obgleich die Urtinktur von Glycowohl auch als Phytotherapeutikum bezeichnet werden könnte, so beruht die Zulassung von Glycowohl als homöopathisches Arzneimittel mit Angabe des Anwendungsgebiets „Zusatzmittel bei Zuckerkrankheit“ allein auf dem homöopathischen Arzneibild, für das keine Evidenz im naturwissenschaftlichen Sinne beigebracht werden muß und auch nicht beigebracht worden ist.

Ingo Rustenbeck, Braunschweig

Literatur

1. Rustenbeck I, Baltrusch S, Tiedge M.: Do insulinotropic glucose-lowering drugs do more harm than good? The hypersecretion hypothesis revisited.
Diabetologia. 2010; 53:2105-11.

2. Baggio LL, Drucker DJ.: Therapeutic approaches to preserve islet mass in type 2 diabetes.
Annu Rev Med. 2006;57:265-81.

3. Chiasson JL.: Prevention of Type 2 diabetes: fact or fiction?
Expert Opin Pharmacother. 2007;8:3147-58.

4. https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelzulassung/
Zulassungsarten/BesondereTherapierichtungen

5. Bundesanzeiger Nr. 54 a vom 17.3.1989

6. Bundesanzeiger Nr. 62 vom 28.3.1992

7. Vikrant V, Grover JK, Tandon N, Rathi SS, Gupta N.: Treatment with extracts of Momordica charantia and Eugenia jambolana prevents hyperglycemia and hyperinsulinemia in fructose fed rats.
J Ethnopharmacol. 2001; 76:139-43.

8. Yeh GY, Eisenberg DM, Kaptchuk TJ, Phillips RS.: Systematic review of herbs and dietary supplements for glycemic control in diabetes.
Diabetes Care. 2003; 26:1277-94.

9. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/BfArM/Publikationen/Jahresbericht2017-18.pdf

Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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Eine Antwort auf Glycowohl bei Diabetes – heftig beworben in den deutschen Zeitungen

  1. Johannes W. Dietrich sagt:

    Vielen Dank für den wichtigen Beitrag!

    In dem Zusammenhang sollte vielleicht auch noch einmal herausgearbeitet werden, dass für die Beurteilung der Qualität eines Arzneimittels (als solches scheint die Substanz ja beworben zu werden) nicht nur die mögliche Blutzuckersenkung von Bedeutung ist, sondern auch deren Vorhersehbarkeit. Gerade das ist ein größeres Problem bei so manchen pflanzlichen Präparaten, gerade dann, wenn eigentlich gar nicht genau klar ist, auf welchem biochemischem Mechanismus die Wirkung im Einzelnen beruht. Dann kann die Konzentration nämlich auch nicht auf den eigentlich wirksamen Inhaltsstoff standardisiert werden.

    In der homöopathischen Denkweise scheint die Argumentation aber nach ganz anderen Kriterien vorzugehen, so dass dieses Problem möglicherweise gar nicht als solches erkannt wird.

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