Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

Bitte beachten Sie den Haftungsausschluss für medizinische Themen.

Hat die traditionelle Medizin ausgedient? Die akademische Medizin muss neu definiert werden!


Bochum, 2. November 2022:

In Band 400 des LANCET erschien am 22. Oktober 2022 eine LECTURE zur Frage, ob die bisherige, traditionelle Medizin allen Faktoren gerecht wird, welche heute über die therapeutische Betreuung des individuellen Patienten hinausgehen (1). Die neuen Anforderungen sind die Verhinderung von Krankheiten durch Beeinflussung der sozialen und der Umweltfaktoren, welche sich auf Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen auswirken können.  Das bisherige Medizin-Modell hat sich über die Jahre hinweg für die Gesundheit und in der Gesundheitsvorsorge bewährt, steht aber heute vor neuen Herausforderungen. In erster Linie sind dies – einschließlich der nicht-übertragbaren Krankheiten (NCD´s) – das Altern der Bevölkerung und komplexe, systematische Barrieren als Probleme für die Gesundheit, die durch eine individuelle Patientenbetreuung nicht gelöst werden können. Pandemien wie COVID-19 erfordern ein populationsbasiertes Management über die direkte klinische Betreuung von Patienten hinaus

Im Folgenden darf aus der Lecture auszugsweise zitiert werden (1). Fettdruck durch den Referenten

Introduction

Currently, the field of academic medicine integrates clinical and academic partners within Academic Health Science Centers, physical campus settings that house scientific research, medical training, and direct patient care. …… (They) have not historically extended their reach beyond their immediate patient and participant populations. In this way, they are often viewed as ivory towers: centres of academia lacking substantial engagement with the communities they inhabit. In contrast, primary prevention is more often the pursuit of national, state, and local public health systems. Public health systems work in the community but are typically under-resourced, face pronounced staff shortages, and lack a strong data infrastructure. The large burdens of COVID-19, NCDs, and inequity across the globe cannot be addressed within the current medical system. To meet the challenges of our time, traditional medicine must improve communication and engagement with the community and increase collaboration and integration with public health.

Calls for this type of integration have been increasing for the past decade. In 2010, the US Government commissioned the Institute of Medicine (IOM; now known as the National Academy of Medicine), to study how the government could work to improve population health through the integration of primary care and public health. The resulting report (2)  published in 2012, emphasised the impact of social, behavioural, and environmental factors on health outcomes.

Redefining academic medicine

Because today’s practice of medicine is built on the foundation of academic medicine, transforming medicine will first require a redefinition of academic medicine. Almost 10 years before the first case of COVID-19, my colleagues and I called for a shift in the traditional system of academic medicine. In 2010, we published a paper in „The Lancet“ proposing an evolution from bench-to-bedside to a “bench to bedside to population” model, which would encompass the entirety of the discovery to care continuum.

Conclusion

The title of this paper asks the question, has traditional medicine had its day? The answer is a strong no. Over the years, the medical model has served patients well. Our society needs the dedicated practitioners of medicine to provide direct compassionate patient care and retain the important attributes of traditional medicine. However, to address the increasing challenges in health in the current era, traditional medicine must evolve to meet the demands of our time. Medicine must extend from the traditional individual patient-disease focus to promote prevention and alignment with public health and social needs. The foundation of traditional medicine is rooted in the education, research, and practice of academic medicine. To change traditional medicine, it is necessary to redefine academic medicine. Over the past decade, academic medicine has faced rapid, dramatic changes, including the impact of a global pandemic. Given the complex, systematic challenges facing global health care today, there is a need to transition away from the bench-to-bedside model to an approach that more accurately reflects the need for attention to social determinants of health, healthy equity, and broad population-level needs: the bench-to-bedside-to-population-to-society model.

Reimagining of academic medicine and the traditional Academic Health Science Centers will only be able to occur with a close partnership between patient care and public health, seeking increased integration to achieve population health.  It should be supported by the adoption of convergence science and practice, data integration, improved community engagement, and equity-oriented action. The new model will produce clinicians who are community-oriented, socially connected, and capable of using data and digital technology effectively. With these key principles in mind, we are hopeful that medicine will evolve to meet the major health-care challenges of our time.

Kommentar

Die Forderung des „bench to bedside to population“ ist prinzipiell zu begrüßen, meint der Referent (H.S.).  Er ist jedoch skeptisch, ob dies, zumindest im deutschen Gesundheitssystem bald realisiert werden wird.  Stellt bei uns doch schon – auch heute noch – die Trennung von stationärer und ambulanter Medizin ein großes Problem dar. Die akademische Ausbildung an den Universitäten mit sozialen und Umwelt-Themen breiter zu lehren dürfte wohl schwer durchsetzbar sein. In der Weiter- und Fortbildung können die jetzt teilweise schon vorhandenen Ansätze dazu erweitert und evtl. auch in die Facharztprüfungen einbezogen werden.

Der Gesundheitsbegriff wurde im DGE-Blog vom 7. Januar 2018 (3) in seinen vielen unterschiedlichen Definitionen dargestellt und diskutiert, so auch die Definition der WHO 1948 als ein Idealziel, die das „soziale Wohlergehen“ einschließt. Dieses zu gewährleisten oder wiederherzustellen übersteigt den Aufgabenbereich von uns Ärzten. Die Forderung einer Kooperation der Ärzteschaft und der ärztlichen Einrichtungen mit den Gesundheitsbehörden und Institutionen jedoch ist zu unterstreichen. Eine in der Lecture empfohlene bessere Zusammenarbeit mit Hilfe der heute verfügbaren digitalen Techniken sollte doch möglich sein.

Wie in der WELT AM SONNNTAG vom 23. Oktober 2022 zu lesen war (4), mangelt es in Deutschland aber gerade bei der Digitalisierung in der Zusammenarbeit der Krankenkassen, Krankenhäuser und Arztpraxen. Zudem dauert es sehr lange, bis die Fragen des Datenschutzes geklärt sind. Ein Gesundheitsökonom klagte über die „wahnsinnige Bürokratie“. Deshalb haben in Deutschland 36 Krankenhäuser zusammen nur ~5000 Coronapatienten für eine Langzeitstudie rekrutieren können, bei etwa 33 Millionen Infektionsfällen. In eine ähnliche Studie sind in Großbritannien bereits 48.000 Patienten eingeschlossen. Der Untertitel des Artikels in der WELT AM SONNTAG fasst zusammen: „Mediziner sammeln wertvolle Daten über Krankheiten und Patienten. Doch ein Labyrinth aus Datenschutz, Bürokratie und Kleinstaaterei in Deutschland verhindert, dass Forscher sie nutzen können – zu Lasten der Patienten“ (4). Das kann durch Neuorientierung der Akademischen Medizin nicht verbessert werden, sondern ist die Aufgabe von anderen wie den gesundheitsökonomischen Institutionen.

Helmut Schatz

Literatur

(1) Victor J Dzan. Melissa H Laitner, Celynne A Balatbat: Has traditional medicine had its day? The need to redefine academic medicine.
Lancet 2022, October 22. Vol 400, Issue 10361, p. 1481-1486

(2) Institute of Medicine: Primary care and public health: exploring integration to improve population health.
National Academies Press, Washington, DC2012

(3) Helmut Schatz: Philosophisch und Poetisch: Gesundheit nach Friedrich Nietzsche und Schönheit im Werk von Raffaelo Santi.
DGE-Blogbeitrag vom 7. Januar 2018

(4) WELT AM SONNTAG: Rettet die Lebensrettenden Daten! Mediziner sammeln wertvolle Daten über Krankheiten und Patienten. Doch ein Labyrinth aus Datenschutz, Bürokratie und Kleinstaaterei in Deutschland verhindert, dass Forscher sie nutzen können – zu Lasten der Patienten.

Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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2 Antworten auf Hat die traditionelle Medizin ausgedient? Die akademische Medizin muss neu definiert werden!

  1. Im Grunde ist die Initiative der Autoren sehr zu begrüßen. Wir brauchen mehr Prävention, um aufwendige Post-Hoc-„Reparaturen“ zu reduzieren. Und diese Prävention muss in der Gesellschaft ansetzen, beim Lebensstil und der allostatischen Last.

    Leider sind die Schwerpunkte der Gesundheitspolitik seit Langem falsch gesetzt. Endokrinologie und Diabetologie sind traditionell präventive Disziplinen. Diese Präventionsarbeit wird aber leider kaum honoriert. An den falschen politischen Schwerpunkten liegt die Unterfinanzierung unserer Fächer und daran das „Endokrinologie-Sterben“ – zum Schaden der gesamten Bevölkerung!

    Dieser wichtige Artikel ist über https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36150397/ erreichbar. Der Volltext ist frei verfügbar, was bei dem Verlag nicht selbstverständlich ist.

  2. Peter Spork sagt:

    Danke für diesen interessanten Beitrag. Die Anregungen im zitierten Artikel sind sehr wichtig und dürften mit zunehmender Bedeutung der Systembiologie noch viel bedeutender werden. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir, auf mein Buch „Die Vermessung des Lebens: Wie wir mit Systembiologie erstmals unseren Körper ganzheitlich begreifen – und Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen“ (DVA 2021) hinzuweisen. Arbeitstitel des Buches war „Das Ende der Medizin“.
    Weitere Infos und Quellen:

    1. Online-Vortrag Systembiologie, Naturwissenschaftlicher Verein Hamburg (YouTube: Fragen Sie Peter Spork): https://youtu.be/Mt7rYatuzIQ

    2. Was ist Systembiologie. RiffReporter, 29.3.2021: https://www.riffreporter.de/de/wissen/systembiologie-gesund-rechnen-mathematik-modellierung

    3. Manifest einer neuen Systembiologie. RiffReporter, 12.8.21: https://www.riffreporter.de/de/wissen/manifest-systembiologie-medizin-gesundheit-zukunft

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