Baden-Baden, 19.-21. März 2025
Ulrike Schatz, Dresden und Helmut Schatz, Bochum
Dresden und Bochum, 25. März 2025:
Geschlechtsdysphorie
Am letzten Kongresstag fand im Auditorium eine Sitzung über Geschlechtsdysphorie statt.
Den 1. Vortrag hielt Frau Prof. Annette Richter- Unruh,. Pädiaterin aus Bochum / MVZ Dortmund zum Thema: Indikationsstellung der Therapie bei Kindern und Jugendlichen. Hier soll der Inhalt einiger ihrer gezeigten, besonders wichtigen Folien präsentiert werden.
Zusammenfassung der Bewertung der Evidenzlage
Die Studienlage im Erwachsenenalter zu geschlechtsangleichenden medizinischen Interventionen ist deutlich umfangreicher als bei Kindern und Jugendlichen. Bei Jugendlichen liegen nur Daten aus nicht-kontrollierten klinischen Kohortenstudien vor. Das Evidenzniveau ist aufgrund methodischer Limitationen nur gering bis moderat (Taylor, Mitchel, Hall, Langton et al., 2024). Es wurde ein Review des British National Institute for Health and Care Excellence (2020b) zitiert, in welchem es heißt, dass bei Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung wahrscheinlich die Symptome der Geschlechtsdysphorie und von Depressionen, Angstzuständen, Lebensqualität, Suizidalität und das psychofunktionale Funktionieren verbessere. Die Auswirkungen der Behandlung auf das Körperbild sein jedoch unklar.
Ziele der Pubertätssuppressionen
- Abmilderung des geschlechtsdysphorischen Leidensdrucks mit Unterbindung der fortschreitenden Maskulinisierung oder Feminisierung des körperlichen Erscheinungsbildes.
- Gewinnen von Zeit für einen geistigen Reife- und Reflexionsprozess, bevor eine Entscheidung für eine geschlechtsangleichende Hormonbehandlung getroffen werden kann (Brik et al., 2020, van der Loos et al., 2022).
- Diese Zeit sei oft erforderlich, bis die nötige Einwilligungsfähigkeit für eine partiell irreversible geschlechtsangleichende Intervention erreicht wird.
- Vermeidung einer lebenslangen Stigmatisierung durch Körpermerkmale des bei Geburt zugewiesenen Geschlechts.
- Spätere geschlechtsangleichende chirurgische Eingriffe wie Mastektomien oder Kehlkopfoperationen oder Kiefer- und Gesichtschirurgische Interventionen seien bei frühzeitig begonnener Pubertätsunterdrückung oft nicht mehr erforderlich (van de Grift et al., 2020)
Die Indikation zur Pubertätsblockade soll interdisziplinär gestellt werden
- mit einer auf dem Gebiet erfahrenen psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachperson
- und mit einer auf dem Gebiet erfahrenen pädiatrisch-endokrinologischen Fachperson
Geschlechtsinkongruenz:
Diagnosekriterien im Kindesalter
- Starker Wunsch, ein anderes als das zugewiesene Geschlecht zu haben.
- Starke Abneigung des Kindes gegenüber seiner Anatomie oder den erwarteten sekundären Geschlechtsmerkmalen.
- Spiele und Aktivitäten mit Spielkameraden, die typisch für das erlebte und nicht das zugewiesene Geschlecht sind, wobei dies allein nicht die Grundlage für die Zuweisung der Diagnose ist.
- Die Inkongruenz muss seit 2 Jahren bestehen
Diagnosekriterien im Jugendalter
entsprechen denen im Erwachsenenalter, wobei die Diagnose nicht vor dem Einsetzen der Pubertät gestellt werden sollte.
Assoziierte Konditionen bei der Diagnostik berücksichtigen!
- Depressive Störungen
- Störungen mit sozialer Ängstlichkeit
- Syndrome mit selbstverletzendem Verhalten
- Essstörungen
- Persönlichkeitsstörungen (insbesondere mit Identitätsdiffusion oder Selbstunsicherheit)
- Adoleszente Reifungskrisen
- Autismus-Spektrum-Störungen
Bei solchen assoziierten psychischen Erkrankungen ist das Einleiten einer leitliniengerechten Diagnostik und Therapie indiziert und auch die mögliche Beeinflussung einer Einwilligungsfähigkeit ist zu berücksichtigen.
Indikationsstellung für eine Pubertätsblockade
- Indikation sollte unabhängig von einem binären Zugehörigkeitsempfinden zu einem bestimmten Geschlecht und unabhängig von der sexuellen Orientierung getroffen werden
- Indikation soll nicht vor dem Tanner-Stadium 2 gestellt werden.
- Die Indikation kann bei Wunsch auch in späterem Pubertätsstadium gestellt werden.
- Bereits begonnener oder vollzogener sozialer Rollenwechsel sollte bei der Indikationsstellung nicht als notwendiges Kriterium gelten.
Aufklärung
Jugendlichen und ihren Sorgeberechtigten sind laut sämtlichen internationalen Leitlinien über die Wirkungsmechanismen und Folgen inklusive möglicher Nebenwirkungen der zur Indikation stehenden körpermodifizierenden Maßnahmen aufzuklären. (Agana et al., 2019, Coleman et al., 2022a, Hembree et al., 2017, RANZCP 2021).
Mögliche Auswirkungen auf Fertilität, Beziehungserleben, Körpererleben und die Auswirkungen der Maßnahmen auf allfällige weitere geschlechtsangleichende körpermodifizierenden Maßnahmen sind zu erläutern (Coleman et al., 2022b, Sjoen et al.,).
Die fachgerechte Dokumentation der informierten Entscheidungsfindung ist essentiell nach Feststellen der Einwilligungsfähigkeit.
Den 2. Vortrag der Sitzung über Geschlechtsdysphorie hielt Frau Dr. Julka Weblus vom Fertility Center Berlin über „Fertilitätsprotektion / Kinderwunsch“.
Den 3. Vortrag hielt Herr Prof. Jörg Bojunga (Frankfurt a.M.) über „Transgender über die Lebensspanne: Erfahrungen und Herausforderungen“.
Im Auditorium fanden nach den Vorträgen lebhafte Diskussionen statt, so wie auch die geplante Leitlinie für Dysphorie im Kindes- und Jugendalter schon längere Zeit kontrovers zwischen den Fachleuten und den Fachgesellschaften diskutiert wird.
Ulrike Schatz, Dresden und Helmut Schatz, Bochum
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