Bochum, 18. September 2023:
Seit 1. Juli 2023 existiert an der Ruhr-Universität Bochum ein neues Institut für Diversitätsmedizin. Direktorin ist Frau Prof. Dr. med. Marie von Lilienfeld-Toal, vorher an der Universität Jena als W2-Professorin für Infektionsforschung in der Hämatologie/Onkologie tätig. Am 21. Juni 2023 nahm der Referent (H.S.) an der Einführungsveranstaltung von Frau Professor von Lilienfeld auf dem Campus der Universität Bochum teil, zu der ihn ihr Vater, der Endokrinologe und Diabetologe Prof. Hermann von Lilienfeld-Toal, Chefarzt der Medizinischen Klinik in Gelnhausen eingeladen hatte: Diesen hatte er vor etwa 25 Jahren anläßlich eines Vortrages an der dortigen Medizinischen Klinik kennengelernt. Der Referent freute sich, seiner Gattin und ihm zur Ernennung ihrer Tochter zur Ordinaria an unserer Ruhr-Universität gratulieren zu dürfen. Frau Prof. von Lilienfeld hielt einen hervorragenden Vortrag. Der Referent (H.S.) bat sie, das Wesentliche ihres Fachgebiets für unseren DGE-Blog niederzuschreiben.
Diversitätsmedizin – ein intersektionaler Ansatz
Intersektionalität ist ein Begriff aus der Soziologie der das Phänomen beschreibt, dass Diskriminierungen gleichzeitig auftreten können und sich gegenseitig beeinflussen. Er kommt aus der schwarzen Feminismustheorie in den USA und beinhaltet ursprünglich als Diskriminierungskategorien „Race“, „Class“ und „Gender“1. In Deutschland gewinnt diese Theorie als Herangehensweise an das Thema Diversität zunehmend an Aufmerksamkeit. Gleichzeitig wird erkannt, dass auch weitere Diskriminierungsfaktoren wie beispielsweise sexuelle Orientierung oder körperliche Verfasstheit eine Rolle spielen können.
Das neu gegründete Institut für Diversitätsmedizin in Bochum möchte einen intersektionalen Ansatz wählen für die Systematisierung, Analyse und Interpretation von Diversitätsfaktoren und ihrer Relevanz auf Gesundheit und Krankheit in Deutschland. Das Ziel ist eine gesundheitliche Gleichstellung für alle Menschen, der Weg eine kontextbewußte Medizin auf der Basis von Erkenntnissen aus intersektionalen Untersuchungen. Da das Konstrukt der Intersektionalität und die Beschäftigung mit Diversität in Deutschland noch sehr neu sind, fehlen an vielen Stellen präzise Begriffe beispielsweise als Übersetzung der amerikanischen Begriffe „Race“, „Class“ oder „Gender“. Eine der Aufgaben der Diversitätsmedizin in Deutschland wird sein, für die Medizin in Deutschland im interdisziplinären Austausch passende Begriffe zu entwickeln – als Beispiel: ist der Begriff „Class“ durch „sozioökonomischer Status“ adäquat abgebildet und welche Faktoren definieren in diesem Bereich die Unterschiede (beispielsweise Faktor Krankenversicherung)?
Trotz dieser Unschärfe sollen im Folgenden die amerikanischen Begriffe verwendet werden um einmal die Relevanz einer intersektionalen Betrachtungsweise von Diversitätsfaktoren für die Medizin zu illustrieren.
Als Fallvignette wird der Fall einer 69-jährigen schwarzen Professorin mit Erstdiagnose eines therapiepflichtigen Multiplen Myeloms, ohne schwerwiegende Nebenerkrankungen, vorgestellt. Wie verhalten sich die Faktoren „Race“, „Class“ oder „Gender“ in einem solchen Kontext? Bezüglich „Race“ ist zu sagen, dass Schwarze Menschen dreimal so häufig am Multiplen Myelom erkranken und sie sind bei Diagnose durchschnittlich 4 Jahre jünger2,3. Allerdings sind sie in Studien dramatisch unterrepräsentiert (nach Epidemiologie sollten knapp 30% der Studienpopulation in den USA Schwarz sein, es sind aber nur knapp 5%4) und sie werden im klinischen Alltag oft untertherapiert bzw. erhalten weniger häufig moderne Therapieansätze5. In den Fällen, in denen adäquat behandelt wird, zeigt sich in der Regel ein günstigerer Verlauf der Erkrankung als in der weißen Bevölkerung5. Dies spiegelt sich auch wider in einer Subgruppenanalyse einer aktuellen randomisierten Studie zur Rolle der Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation, die zwar für die gesamte Studiengruppe eine Überlegenheit der Hochdosistherapie auch in Zeiten moderner Therapieansätze bestätigte, dies aber für die Subgruppe der Schwarzen Studienteilnehmer nicht zeigen konnte6. Insofern stellt sich die Frage, ob der aktuelle Standardansatz einer Hochdosistherapie im Hinblick auf das möglicherweise überdurchschnittlich gute Ansprechen auf moderne Therapieoptionen im Fall der vorgestellten Patientin die richtige Herangehensweise ist.
Bezüglich „Class“ ist für die Patientin in der vorgestellten Vignette eine geringe sozioökonomische Benachteiligung zu erwarten, was sich hinsichtlich der Gesundheit auch in Deutschland im Sinne einer geringeren Inzidenz von Krebserkrankungen, einem besseren Überleben von Krebserkrankungen und der höheren Wahrscheinlichkeit, moderne Therapien zu erhalten, auswirkt7-9. Solche Einflüsse sind in den USA sicherlich aufgrund der stärkeren sozioökonomischen Unterschiede noch deutlicher zu erwarten – andererseits gilt für Deutschland, dass die allgemeine Vorstellung, die Gesundheitsversorgung sei für alle sozioökonomischen Gruppen gleich gut, nicht korrekt ist und hier hinsichtlich der Ursachen und potentieller Gegenmaßnahmen dringender Forschungs- und Handlungsbedarf vorliegt. Schließlich ist der Faktor „Gender“ zu betrachten, der begrifflich eher die soziale Geschlechterrolle meint, während das biologische Geschlecht mit „Sex“ besser umschrieben ist. Für die Betrachtung im aktuellen Fallbeispiel sei hier die Evidenz hinsichtlich der Rolle des biologischen Geschlechts angeführt:
Frauen erkranken später am Multiplen Myelom, haben häufiger eine sogenannte Hochrisikozytogenetik und trotz dieser beiden adversen Faktoren ein vergleichbares Outcome wie Männer10,11. Hinsichtlich der Therapieverträglichkeit zeigt sich, wie übrigens auch für andere Krebstherapien u.a. mit 5-FU, eine deutlich höhere Nebenwirkungsrate bei Frauen11,12. Einer der Gründe für die höhere Rate an Nebenwirkungen könnte in der höheren Dosisdichte bei Frauen liegen, die wiederum durch das geringere Körpergewicht zustande kommt13.
Zusammenfassend zeigt sich, dass alle genannten Diversitätsfaktoren einen Einfluß auf die Biologie, den Verlauf und die Therapierbarkeit einer Krebserkrankung haben und in der Aufklärung und Therapieentscheidung eine Rolle spielen sollten. Menschen, die nicht in das medizinisch hervorragend untersuchte Kollektiv der normgewichtigen, jungen, körperlich unbeeinträchtigten, weißen und akademischen Männer fallen, sind in der medizinischen Forschung unterrepräsentiert. Eventuelle Unterschiede werden daher zu wenig berücksichtigt mit der Folge einer möglicherweise inadäquaten Therapie. Aktuelle Studien belegen, dass auch auf Seiten der Patienten diese fehlende Passfähigkeit erkannt wird, was zu Unterbehandlung führen kann14.
Eine zeitgemäße Medizin berücksichtigt sowohl die biologischen als auch die soziologischen Einflüsse von Diversitätsfaktoren im Sinne einer intersektionalen Herangehensweise, um Unter- und Fehlbehandlungen zu vermeiden. Nötig sind hierfür Forschung und Erkenntnisgewinn, Fort- und Weiterbildung und stärkere Berücksichtigung in der klinischen Praxis.
Univ. Prof. Dr. med. Marie von Lilienfeldt-Toal, Bochum
1) Crenshaw, K.: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. University of Chicago Legal Forum 1989 (1989).
2 ) Smith, C. J., Ambs, S. & Landgren, O. : Biological determinants of health disparities in multiple myeloma. Blood cancer journal 8, 85, doi:10.1038/s41408-018-0118-z (2018).
3 ) Waxman, A. J. et al.: Racial disparities in incidence and outcome in multiple myeloma: a population-based study. Blood 116, 5501-5506, doi:10.1182/blood-2010-07-298760 (2010).
4) Casey, M. et al. :Are Pivotal Clinical Trials for Drugs Approved for Leukemias and Multiple Myeloma Representative of the Population at Risk? Journal of clinical oncology : official journal of the American Society of Clinical Oncology, Jco2200504, doi:10.1200/jco.22.00504 (2022).
5) Dong, J. et al.:Black patients with multiple myeloma have better survival than white patients when treated equally: a matched cohort study. Blood cancer journal 12, 34, doi:10.1038/s41408-022-00633-5 (2022).
6) Richardson, P. G. et al.: Triplet Therapy, Transplantation, and Maintenance until Progression in Myeloma. The New England Journal of Medicine, doi:10.1056/NEJMoa2204925 (2022).
7) Jansen, L. et al.: Trends in cancer incidence by socioeconomic deprivation in Germany in 2007 to 2018: An ecological registry-based study. International journal of cancer, doi:10.1002/ijc.34662 (2023).
8) Jansen, L. et al.: Socioeconomic deprivation and cancer survival in a metropolitan area: An analysis of cancer registry data from Hamburg, Germany. Lancet Reg Health Eur 4, 100063, doi:10.1016/j.lanepe.2021.100063 (2021).
9) Jansen, L. et al.: Uptake Rates of Novel Therapies and Survival Among Privately Insured Versus Publicly Insured Patients With Colorectal Cancer in Germany. Journal of the National Comprehensive Cancer Network : JNCCN 19, 411-420, doi:10.6004/jnccn.2020.7636 (2021).
10) Bird, S. et al.: Sex Differences in Multiple Myeloma Biology but not Clinical Outcomes: Results from 3894 Patients in the Myeloma XI Trial. Clinical lymphoma, myeloma & leukemia 21, 667-675, doi:10.1016/j.clml.2021.04.013 (2021).
11) Brioli, A. et al.: Sex-disaggregated analysis of biology, treatment tolerability and outcome of Multiple Myeloma in a German cohort. Oncol Res Treat, doi:10.1159/000525493 (2022).
12) Wagner, A. D. et al.: Sex and adverse events of adjuvant chemotherapy in colon cancer: an analysis of 34,640 patients in the ACCENT database. Journal of the National Cancer Institute, doi:10.1093/jnci/djaa124 (2020).
13) Blijlevens, N. et al.: Prospective oral mucositis audit: oral mucositis in patients receiving high-dose melphalan or BEAM conditioning chemotherapy–European Blood and Marrow Transplantation Mucositis Advisory Group. Journal of clinical oncology : official journal of the American Society of Clinical Oncology 26, 1519-1525, doi:10.1200/jco.2007.13.6028 (2008).
14) Patel, V. R. et al.: Prevalence of Delayed or Forgone Care Due to Patient-Clinician Identity Discordance Among US Cancer Survivors. JAMA oncology 9, 719-722, doi:10.1001/jamaoncol.2023.0242 (2023).
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