Bochum, 3. Mai 2019:
Ein kürzlich veröffentlichter Bericht für das Europäische Parlament [1] könnte unseren Umgang mit endokrinen Disruptoren wesentlich verändern. Die Übersichtsarbeit, verfasst von Barbara Demeneix am CNRS und MNHN in Paris und von Rémy Slama am INSERM-Institut in Grenoble, war von dem PETI-Komitee des Europaparlaments in Auftrag gegeben worden, um Informationen zur aktuellen wissenschaftlichen Evidenz zur Hand zu haben, die als Grundlage für künftige Entscheidungen dienen können. Bemerkenswert an diesem über 100-seitigen Bericht ist insbesondere, dass er einen neuen Schwerpunkt setzt, der bisher vernachlässigt wurde. Die Autoren gehen nämlich ausführlich auf die Wirkung endokriner Disruptoren auf die Entwicklung des zentralen Nervensystems ein.
Die WHO definiert einen endokrinen Disruptor als „exogene Substanz oder Mischung, welche die Funktion(en) des endokrinen Systems verändert und in der Folge ungünstige gesundheitliche Wirkungen in einem intakten Organismus oder seinen Nachkommen oder in (Unter-) Populationen entfaltet“ [2]. Bei diesen exogenen Umweltgiften kann es sich um industriell hergestellte Chemikalien wie Pflanzenschutzmittel, Brandhemmer oder Grundstoffe der Kunststoffindustrie, aber selbstverständlich auch um Medikamente und Substanzen natürlichen Ursprungs handeln (siehe 3).
Untersuchungen der letzten Jahre haben ergeben, dass endokrine Disruptoren neben den seit langem bekannten Wirkungen auf die sexuelle Differenzierung, die Fertilität und den Fett- und Glukosestoffwechsel auch die Schilddrüsenfunktion stark beeinflussen und auf diesem Wege ungünstige Wirkungen auf die Entwicklung des Zentralnervensystems entfalten [4,5]. Die Folgen bestehen insbesondere in Lernstörungen, Intelligenzminderung und gehäuftem Auftreten von Erkrankungen aus dem Autismus-Spektrum [6].
Quelle: [1]
Die Autoren kritisieren die derzeitige politische Regelung endokriner Disruptoren in der EU. Insbesondere wird bemängelt, dass es eine gesetzliche Definition nur im Sektor der Biozide und Pflanzenschutzmittel gebe, dass die Regelungen inkonsistent seien, dass nur ein Bruchteil der wissenschaftlich identifizierten Disruptoren anerkannt seien und dass in vielen Bereichen eine Testung auf endokrine Wirkungen keine Voraussetzung für die Zulassung einer neuen Substanz sei. Weder die Rahmengesetzgebung noch ihre Umsetzung seien daher in der Lage, die menschliche Gesundheit und die Umwelt hinreichend zu schützen.
Als mögliche Verbesserungen empfehlen die Autoren u.a. eine einheitliche Definition endokriner Disruptoren über verschiedene Sektoren hinweg, die Entwicklung von Leitlinien und die verpflichtende Vorschrift, vor der Zulassung neuer Substanzen diese auf mögliche endokrine Effekte zu testen. Darüber hinaus sei die Entwicklung geeigneter Untersuchungsmethoden zu fördern. Diese sollten auch epigenetische Effekte, generationsübergreifende Wirkungen, Einflüsse auf das Mikrobiom und ausführliche Dosis-Wirkungs-Beziehungen einschließen.
Kommentar
Dieser Bericht hat auch insofern Brisanz, als in den entwickelten Ländern zuletzt eine Abnahme der mittleren Intelligenz auf der Bevölkerungsebene beobachtet wurde. Während der längsten Zeit des 20. Jahrhunderts hatte man zunächst eine Zunahme der mittleren Intelligenz beschrieben. Nach seinem Erstbeschreiber wurde dieser Befund als Flynn-Effekt bezeichnet. Anhand von Studien in 14 Ländern hatte James R. Flynn eine Zunahme der mittleren IQ-Werte von 5 bis 25 Punkten pro Generation beobachtet [7]. Nach einer Meta-Analyse hat der mittlere IQ von 1909 bis 2010 um 30 Punkte zugenommen [8]. Die Ursachen liegen möglicherweise in Umweltbedingungen wie Verbesserungen der Gesundheitsversorgung, der Ernährung und der Bildung.
Beunruhigenderweise nimmt die mittlere Intelligenz seit etwa 2000 wieder ab [9,10]. Es gibt keinen Konsens über die Ursachen dieses negativen Flynn-Effekts. Diskutiert werden u. a. genetische Auslese durch Migration und Medienkonsum, allerdings sind die Hypothesen nicht unwidersprochen geblieben [11]. Die neuen Untersuchungen zur Wirkung endokriner Disruptoren auf das ZNS könnten hier einen neuen und wesentlichen Aspekt hinzufügen. Möglicherweise hemmen Xenobiotika wie Bisphenol A, Thiocyanat, Perchlorat, halogenierte Phenole und PCBs die Wirkung von Schilddrüsenhormonen im Zentralnervensystem während kritischer Phasen der Embryonalentwicklung und beeinträchtigen auf diese Weise die Entwicklung des Gehirns. Sowohl tierexperimentelle als auch epidemiologische Untersuchungen legen einen starken ungünstigen Effekt auf die Entwicklung von Nerven- und Gliazellen [5, 12] nahe. Die volkswirtschaftlichen Folgekosten alleine in der EU werden auf über 150 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt [13].
Freilich ist eine Lösung nicht einfach, denn die Forschung zu endokrinen Disruptoren ist leider schwierig. Dies liegt insbesondere an fünf Komplexitäten:
- Dissoziation des Ortes: Die Endstrecke der Wirkung von Disruptoren beginnt am Hormonrezeptor, allerdings setzen sie dort nicht unbedingt an. Eine veränderte Signalisierung kann auch durch Effekte an Transportproteinen, Dejodinasen, dem Abbau von Hormonen und durch verstellte Sollwerte von Regelkreisen bedingt sein [1].
- Dissoziation der Zeit: Ausgelöst werden die unerwünschten Wirkungen in einem kurzen Zeitfenster in der Embryonalperiode, die Konsequenzen manifestieren sich oft Jahrzehnte später und mitunter sogar in der Enkelgeneration [14].
- Dissoziation der Substanz: Endokrine Disruptoren wirken in der Kombination oft anders und meist stärker als einzeln. Die Effekte sind nicht additiv, sondern eher multiplikativ oder komplexer [1].
- Dissoziation der Dosis: Die Dosis-Wirkungsbeziehungen sind meist nichtlinear und nicht selten sogar U-förmig, so dass niedrige und mittlere Dosen mitunter stärker als hohe oder sehr niedrige Dosen wirken [1].
- Dissoziation des Geschlechts: Die Wirkung auf männliche und weibliche Embryonen bzw. Feten ist oft gänzlich unterschiedlich [14, 15].
Diese fünf Dissoziationen erschweren die Entdeckung endokriner Disruptoren und die Forschung erheblich. Deshalb haben bereits Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie, die European Society of Endocrinology und die Endocrine Society Revisionen der bisherigen Bewertungsmaßstäbe der Europäischen Union gefordert [16, 17, 18]. Man muss Demeneix, Slama und anderen daher recht geben, wenn sie strengere Kriterien für die Zulassung neuer Substanzen und die Entwicklung verbesserter Testmethoden fordern [19].
PD Dr. med. Johannes W. Dietrich
Medizinische Klinik I
BG Universitätsklinikum Bergmannsheil GmbH
Bürkle-de-la-Camp-Platz 1
D-44789 Bochum
Johannes.dietrich@ruhr-uni-bochum.de
Literatur
- Demeneix B, Slama R (2019), Endocrine Disruptors: From Scientific Evidence to Human Health Protection. Study, requested by the European Parliament Committee on Petitions. Policy Department for Citizens‘ Rights and Constitutional Affairs. Directorate General for Internal Policies of the Union. PE 608.866. http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2019/608866/IPOL_STU(2019)608866_EN.pdf
- WHO/IPCS, Global assessment of the state-of-the-science of endocrine disruptors. 2002. http://www.who.int/ipcs/publications/new_issues/endocrine_disruptors/en/
- Schatz H (2013): Endokrine Disruptoren: Störungen des Hormonsystems durch 800 verschiedene chemische Substanzen bekannt oder vermutet. DGE-Blogbeitrag vom März 2013. https://blog.endokrinologie.net/endokrine-disruptoren-793/
- Braun JM. Early-life exposure to EDCs: role in childhood obesity and neurodevelopment. Nat Rev Endocrinol. 2017 Mar;13(3):161-173. doi: 10.1038/nrendo.2016.186. PMID: 27857130.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27857130 - Hernandez ME, Gore AC. Endocrine disruptors: Chemical contaminants – a toxic mixture for neurodevelopment. Nat Rev Endocrinol. 2017 Jun;13(6):322-323. doi: 10.1038/nrendo.2017.40. PMID 28387320.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28387320 - Long M, Ghisari M, Kjeldsen L, Wielsøe M, Nørgaard-Pedersen B, Mortensen EL, Abdallah MW, Bonefeld-Jørgensen EC. Autism spectrum disorders, endocrine disrupting compounds, and heavy metals in amniotic fluid: a case-control study. Mol Autism. 2019 Jan 9;10:1. doi: 10.1186/s13229-018-0253-1. PMID: 30647876.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30647876 - Flynn JR: Massive IQ gains in 14 nations: What IQ tests really measure. Psychological Bulletin 101(2), 1987. 171–91.
http://www.iapsych.com/iqmr/fe/LinkedDocuments/flynn1987.pdf - Pietschnig J, Voracek M: One Century of Global IQ Gains: A Formal Meta-Analysis of the Flynn Effect (1909-2010). SSRN Electronic Journal. 10(1). Januar 2013, https://doi.org/10.2139/ssrn.2404239
- Lynn R, Harvey J: The decline of the world’s IQ. 36, 2008. 112–20
https://doi.org/10.1016/j.intell.2007.03.004 - Teasdale TW, Owen DR: Secular declines in cognitive test scores: A reversal of the Flynn Effect. Intelligence. 36, 2008. 121–6
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https://www.zeit.de/2019/14/intelligenzquotient-hirnforschung-messwerte-bildung-gene-konzentration - Fini JB, Mughal BB, Le Mével S, Leemans M, Lettmann M, Spirhanzlova P, Affaticati P, Jenett A, Demeneix BA. Human amniotic fluid contaminants alter thyroid hormone signalling and early brain development in Xenopus embryos. Sci 2017 Mar 7;7:43786. doi: 10.1038/srep43786. PMID: 28266608.
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https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29458359 - Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (12. September 2017): Schärfere Bestimmungen zum Schutz vor schädlichen Umwelthormonen nötig.
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https://www.ese-hormones.org/media/1403/ese-response-to-public-consultation-on-endocrine-disruptors-31-january-2018.pdf - Endocrine Society (Mai 2018): Endocrine-Disrupting Chemicals in the European Union. Position Statement.
https://www.endocrine.org/-/media/endosociety/files/advocacy-and-outreach/position-statements/2018/position_statement_edcs_in_the_european_union.pdf?la=en - Leung AM, Korevaar TI, Peeters RP, Zoeller RT, Köhrle J, Duntas LH, Brent GA, Demeneix BA. Exposure to Thyroid-Disrupting Chemicals: A Transatlantic Call for Action. Thyroid. 2016 Apr;26(4):479-80. doi: 10.1089/thy.2016.0077. PMID: 26906244.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26906244
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Jakob Pietschnig, Psychologe an der Universität Wien fand in umfangreichen Studien, dass der negative Flynn- Effekt NICHT mit einer steigenden Migrantenzahl zuaanmenhängt ( Interview in Der Spiegel vom 22.6.2019.