Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Jodtabletten zum Schutz bei Reaktorunfällen: Wann, wo, wer, wieviel? Nutzen und Risiken


Bochum, 26. Mai 2016:

In den vergangenen Tagen stand den deutschen Tageszeitungen zu lesen (1,2), dass Nordrhein-Westfalen Jodtabletten einkaufen wird. Sie sollen bei einem Reaktorunfall in den grenznah gelegenen belgischen Atomkraftwerken Tihange – nur 70 km von Aachen entfernt – und Doel an Schwangere und Personen unter 18 Jahren zum Schutz vor  Strahlenschäden der Schilddrüse durch freigesetztes radioaktives Jod verteilt werden, um das vermehrte Auftreten von Schilddrüsenkrebs zu verhindern, wie es nach Tschernobyl der Fall war. Die beiden Atomkraftwerke in Belgien gelten als besonders störanfällig. Zudem befürchtete man auch nach den Brüsseler Vorfällen Terrorakte gegen sie. In Belgien wurde daher vom  Gesundheitsminister am 28. April 2016 der Beschluss bekanntgegeben, Jodtabletten nicht nur an die Bevölkerung im Umkreis von Atomkraftwerken wie bisher, sondern an alle 11 Millionen Einwohner des Landes zu verteilen. Am 30. April 2016 schlossen sich die Niederlande diesem Vorgehen an.

Der Nutzen einer sofortigen Schilddrüsenblockade mit hochdosiertem Jod als Kaliumjodid-Tabletten in solchen Situationen ist unbestritten. Das sah man nach Tschernobyl in Polen, wo durch die sofortige Jodblockade – im Unterschied etwa zur Ukraine und zu Weissrussland – die Zahl der Schilddrüsenkarzinome bei Kindern und Jugendlichen nicht anstieg. Wichtig ist eine genügend hohe Jod-Dosis. Die WHO empfiehlt 130 mg (Milligramm!) als Einmalgabe 1 (bis 2) Tage vor Eintreffen der radioaktiven Wolke. Drei Stunden nachher hat sie nur noch 50%, 10 Stunden später keine Wirkung mehr. Noch später kann sie sogar schaden, da dann das durch die Atmung schon aufgenommene radioaktive Jod langsamer ausgeschieden wird. Neugeborenen, Säuglingen, Kindern und Jugendlichen sind ans Alter angepasste kleinere Dosen zu geben. Sinnvoll ist also nur eine exzessiv hohe Jodmenge, wie sie in den  für solche Zwecke von den Heilmittelwerken Lannach  – für Kinder teilbaren – 65 mg-Tabletten enthalten ist. Die in der Medizin üblichen Jodpräparate, die als Schilddrüsensupplemente für Schilddrüsenerkrankungen oder für Schwangere angeboten werden, sind völlig ungeeignet, da um einige Zehnerpotenzen niedriger dosiert: 100 – 150 /ug (Mikrogramm!). Der Höchstwert für eine tägliche Jodzufuhr beträgt bei uns 500 /ug pro Tag.

Potenzielle Schäden von extrem hochdosiertem Jod:

  • Auslösung einer Hyperthyreose, insbesondere bei Vorliegen einer funktionellen Autonomie (Überfunktion durch „Knotenkropf“) oder Morbus Basedow
  • Hashimoto-Thyreoiditis (immunologisch bedingte Schilddrüsenentzündung)
  • Akute Blockade der Jodaufnahme in die Schilddrüse (Wolff-Chaikoff-Effekt) ohne und mit Hypothyreose.

Jodmengen <500 /ug/Tag lösen bei einer normalen Schilddrüse per se keine Hyperthyreose aus. Dazu sind höhere Dosen von 2000 – 10.000 /ug/Tag erforderlich. Die Problematik der Joddosis mit den gesundheitlichen Risiken durch zu hohen Jodgehalt wird in der aktualisierten Stellungnahme Nr. 026/2007 des Bundesamts für Risikobewertung eingehend diskutiert und mit Literatur belegt (3).

Kommentar

Niemand sollte von sich aus „Vorsorge“ betreiben und sich über welche Quellen auch immer Jodpräparate zum „Strahlenschutz“ besorgen oder gar selbständig ohne behördliche Informationen und Empfehlung/Anordnung einnehmen. Die Behörden in Deutschland handeln gewissenhaft und sorgfältig. Man kann sich und seiner Schilddrüse durch die zum Strahlenschutz nötigen extrem hohen Joddosen schaden – oder man nimmt aus Unkenntnis die dafür viel zu gering dosierten in der Medizin üblichen „Jodtabletten“ ein.

Helmut Schatz

Literatur

(1) Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 24. Mai 2016: NRW bestellt Jodtabletten zum Schutz bei einem Atomunfall.

(2) Die Welt, 25.Mai 2016: Marode Atommeiler: NRW ordert Jodtabletten für Kinder und Schwangere

(3) Bundesamt für Risikobewertung: Gesundheitliche Risiken durch zu hohen Jodgehalt.
Aktualisierte Stellungnahme Nr. 026/2007

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Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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3 Antworten auf Jodtabletten zum Schutz bei Reaktorunfällen: Wann, wo, wer, wieviel? Nutzen und Risiken

  1. Sehr geehrter Herr Professor Schatz,
    ich bin Kinderarzt und Neonatolge im Ruhestand und wohne in Aachen, 70 km von TIHANGE entfernt.
    Als Vorsitzender des 24 Jahre bestehenden Fördrvereins MENSCHENSKIND e.V. setze ich mich für Frühgeboren und kranke Neugeboren besonders ein.
    Ich habe Sorge, 130 mg Kaliumjodid Schwangeren und stlllenden Müttern prophylaktisch kurz nach einem Reaktor unfall einnehmen zu lassen
    Jod ist placenta- und muttermilchgängig.
    Die Vergiftungszentrale in Berlin kennt keine diesbezüglich gemeldete Anfrage.
    Nach dem erst vor kurzem entdeckten Wollf- Chaikoff-Effekt wäre die konsekutive Hypothyreose für den Feten und Embryo, für Früh-und Neugeborene insbesondere für die Hirnentwicklung in dieser sensiblen Phase nicht ungefährlich.
    siehe: Leung,A. M. & Bravermaan,L.E. (2ß13) Consequences of excess iodine
    Nat.Rev. Endocrinl. doiu: 10.1038/nrendo. 2013.251
    Wie wirkt sich der Wolff-Chaikoff auf die noch unreife Schildrüse des Ungeborenen, des Früh-und Neugboren aus?
    Ich bedanke mich schon jetzt für eine zufriedenstellende Antwort in der Hoffnung , dass meine Befürchtungen sich nicht bewahrheiten.
    Dr. Volker Siller
    Reimser Str. 10
    52974 Aachen
    Tel 0241 72243

  2. Helmut Schatz sagt:

    Sehr geehrter Herr Kollege Siller, ich kenne die Untersuchungen zum Woll-Chaikoff-Effekts bei Feten nicht. Es wird diesen Effekt wohl sicherlich geben, denn das Exzess-Jod aus dem Blut der Mutter wird auf den Feten übergehen. Aber: Der Wolff-Chaikoff-Effekt tritt – zumindest bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen – nicht immer auf (im übrigen ist dieser Effekt nicht erst „vor kurzem entdeckt“ worden, wie Sie schreiben, ich kannte ihn schon in meiner Wiener Zeit in den 1960er Jahren). Und es ist eine Risikoabwägung Strahlenschaden bis hin zum Schilddrüsenkrebs versus Schilddrüsenblockade und Induktion von Immunphänomenen. Natürlich kommt bei Fetus vor allem in frühen Stadien die Gehirnentwicklung dazu. Da bin ich aber nicht Spezialist. Am besten ist es, wenn Sie Prof. Christoph Reiners fragen (früher Würzburg, zuletzt Essen, jetzt pensioniert). Er war auch mehfach als Experte in Tschernobyl.
    Beste Grüße
    Helmut Schatz

  3. Leider sind mir auch keine systematischen Studien zu Auswirkungen einer Jodblockade auf die Hirnentwicklung Ungeborener bekannt. Es gibt aber einige Fallberichte zu dieser Konstellation [1-4].

    Kritisch hinsichtlich der Versorgung mit Schilddrüsenhormonen sind die Embryonal- und die frühe Fetalperiode bis zur 20. Schwangerschaftswoche. In dieser Zeit ist der Stoffwechsel des Ungeborenen von der Versorgung durch die Mutter abhängig (deshalb ist es auch sinnvoll, dass in dieser Periode physiologischerweise die Funktion der mütterlichen Schilddrüse durch HCG bis zur scheinbaren latenten Hyperthyreose stimuliert wird). Da bei Reaktorunfällen eine Plummerung ja nur einmalig durchgeführt wird und die Halbwertszeit von Schilddrüsenhormonen und insbesondere von T4 durch die starke Plasmaproteinbindung (die in der Schwangerschaft noch deutlich zunimmt) sehr lang ist, gehe ich nicht davon aus, dass es dabei zu einer relevanten Unterversorgung kommt.

    Geringfügig anders ist die Situation ab der 20. Schwangerschaftswoche, in der die Funktion des fetalen Regelkreises einsetzt. Ab diesem Zeitpunkt geht die Versorgung durch den mütterlichen Stoffwechsel zurück, und es kann, wie die Fallberichte suggerieren, hier zur Entwicklung fetaler und neonataler Hypothyreosen und Strumen kommen. Dies mag auch durch die geringere Plasmaproteinbindung von Schilddrüsenhormonen im fetalen Kreislauf [5] mitbedingt sein. Allerdings ist diese Zeit dann nicht mehr so kritisch für die Hirnentwicklung wie die früheren Phasen bis zur 20. Woche. Letztlich berichten die zitierten Case Reports aber auch jeweils über eine längerfristige Einnahme hoher Joddosen, z. B. durch Verzehr von japanischem Meeresgemüse oder falsch dosierte Mineralstoffpräparate.

    Die Jodblockade nach kerntechnischen Unfällen besteht ja in einer einmaligen Gabe von 16,25 – 130 mg Kaliumjodid. Als im Zuge der Havarie von Tschernobyl im Jahre 1986 in Polen 7 Millionen Erwachsene und mehr als 10 Millionen Kinder eine hochdosierte Jodprophylaxe erhielten, wurden weder Nebenwirkungen noch – im Gegensatz von Weißrussland – ein Anstieg der Inzidenz von Schilddrüsenkarzinomen beobachtet. Ich würde mich daher den Empfehlungen der Strahlenschutzkommission [6] anschließen und auch Schwangeren eine einmalige Plummerung empfehlen – wenn die Situation es wirklich notwendig macht.

    1. Connelly KJ, Boston BA, Pearce EN, Sesser D, Snyder D, Braverman LE, Pino S, LaFranchi SH. Congenital hypothyroidism caused by excess prenatal maternal iodine ingestion. J Pediatr. 2012 Oct;161(4):760-2. doi:
    10.1016/j.jpeds.2012.05.057. PMID 22841183; http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22841183/

    2. Nishiyama S, Mikeda T, Okada T, Nakamura K, Kotani T, Hishinuma A. Transient hypothyroidism or persistent hyperthyrotropinemia in neonates born to mothers with excessive iodine intake. Thyroid. 2004 Dec;14(12):1077-83. PMID 15650362. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15650362/

    3. Thomas Jde V, Collett-Solberg PF. Perinatal goiter with increased iodine
    uptake and hypothyroidism due to excess maternal iodine ingestion. Horm Res. 2009;72(6):344-7. doi: 10.1159/000249162. PMID 19844123. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19844123/

    4. Stagi S, Manoni C, Chiarelli F, de Martino M. Congenital hypothyroidism due to unexpected iodine sources. Horm Res Paediatr. 2010;74(1):76. doi: 10.1159/000295697. PMID 20431276. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20431276/

    5. Thorpe-Beeston JG, Nicolaides KH, McGregor AM. Fetal thyroid function.
    Thyroid. 1992 Fall;2(3):207-17. PMID 1422233. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/1422233

    6. Strahlenschutzkommission. Verwendung von Jodtabletten zur Jodblockade der Schilddrüse bei einem kerntechnischen Unfall. 24./25.02.2011. http://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/2011/2011_02.pdf?__blob=publicationFile

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