Medizinisches Diskussionsforum
Kennen Sie diesen Begriff? Wer findet die „Narrative Medizin“ für notwendig? Welchen Einfluss hat sie auf unser ärztliches Handeln?
Und: Nützt sie den kranken Menschen?
Bochum, 1. Oktober 2024:
Am 17. September 2024 hielt im Zisterzienserkloster Bochum-Stiepel Herr Prof. Dr. Christian Böhr aus Trier, Professor für Philosophische Gegenwartsfragen an der „Hochschule Benedikt XVI Heiligenkreuz“ bei Wien einen Vortrag über das Denken der Gegenwart (1). Mehrfach erwähnte er darin kritisch den postmodernen Begriff des „Narrativs“, der (kursiv die Formulierungen von Böhr) „heute dazu dienen soll, die Wirklichkeit in eine Erzählung aufzulösen, um auf diese Weise an die Stelle des Verweischarakters von Sprache ein neues Verständnis als zweckfreies, selbstbezügliches Spiel zu setzten. Folgt man diesem Verständnis, gibt es kein „Sein“ der Dinge mehr, sondern nur noch Deutung“.
Der Referent (H.S.) nahm an der Veranstaltung teil und der Vortragende fragte ihn bei einem anschließenden Gespräch in kleinem Kreis, „ob es nicht längst schon auch eine Narrative Medizin gäbe“. Mir war dieser Begriff nie begegnet und ich verneinte. Dies überraschte Prof. Böhr und veranlaßte ihn, diesen Begriff zu googeln. Denn für ihn sei das von ihm „heftig kritisierte Zauberwort der Postmoderne in allen akademischen Disziplinen allgegenwärtig“. Als Ergebnis schickte er mir Links zu zwei von „unzähligen Funden“, wie er schrieb, im Netz.
Am nächsten Tag befragte der Referent einige Mediziner, so die Direktorin der Universitätsklinik für Allgemein Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie und den Direktor der Neurologischen Universitätsklinik am Bergmannsheil, dessen Oberarzt sowie einen prominenten niedergelassenen Bochumer Psychiater: Alle kannten den Ausdruck „Narrative Medizin“ nicht, dieser ist ihnen bisher nie begegnet. Auch den Mitarbeitern im Institut für Ethik und Medizingeschichte der Ruhr-Universität Bochum war er nicht geläufig (vom Direktor, Prof. Jochen Vollmann steht urlaubsbedingt die Antwort allerdings noch aus).
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Der individuelle Patient mit den Schilderungen seiner Erlebnisse, Beschwerden, Erwartungen und Wünschen steht schon lange im Mittelpunkt
Die befragen Ärzte, die alle noch nie von einer Narrativen Medizin gehört hatten, mutmaßten unter anderem, dass diese sich mit der „Sprechende Medizin“ überschneiden dürfte, wie sie gerade in der Endokrinologie von großer Bedeutung ist, oder ganz allgemein, dass für jeden Arzt die Erhebung der sogfältige Erhebung der Anamnese in einem langen Gespräch ohnedies Pflicht sei. Und das gegenseitige Erzählen ihrer persönlichen Momente, also ein Gesprächsaustausch fände ja schon lange auch in den Selbsthilfegruppen statt.
Im DGE-Blog wurde vor Jahren geschrieben, dass der individuelle Patient von großer Wichtigkeit ist. Archie Cochrane (2) schilderte in „One´s Man Medicine, wie ihn die Begegnung mit einem einzigen Patienten im 2. Weltkrieg geprägt habe, und David Sackett (3) betonte immer wieder, dass seine Evidence-based Medicine (EBM) drei wesentlichen Kriterien habe:
1.) Bestmögliche Evidenz nach wissenschaftlichen Studien
2.) Expertise des Arztes
3.) Einbeziehung des Patienten in den Entscheidungsprozess (heute: „Shared decision“).
Im DGE-Blogbeitrag über Sackett und die EBM (3) wurde darauf hingewiesen, dass viele Ärzte – und selbst Wikipedia – unter EBM unzutreffend nur Punkt 1 nach Sackett, also die wissenschaftlichen Studien verstehen. In Wikipedia kann man lesen: „Der Begriff Narrative Medizin wurde explizit in Abgrenzung und Ergänzung zur evidenzbasierten Medizin geprägt….Neuerdings bemüht man sich zunehmend Narrative Medizin und Evidenzbasierte Medizin als komplementär zu verstehen“.
Es stimmt freilich, dass nicht mehr die auf die wissenschaftlichen Studien verkürzte EBM ganz im Vordergrund steht, sondern heute die individuelle, personalisierte“, oder – mit einem englischen Ausdruck – die „precision medicine“. Bei der Individualisierung spielen aber nicht narrative, sondern andere Momente wie etwa die Genetik und das Umfeld eine Rolle.
Im „Ärzte-Gelöbnis“ der Weltgesundheitsorganisation von 2017, dem „Eid des Hippokrates für die heutige Zeit“ steht ganz zu Beginn: „I will respect the autonomy and dignity of my patient“´(4).
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Was versteht man unter dem Begriff „Narrative Medizin“?
Der Begriff der Narrativen Medizin wurde zu Beginn unseres Jahrtausends geprägt: Sie wurde begründet von Rita Charon von der Columbia Universität New York. Sie schrieb am 2. März 2006:
„Narrative Medicine: Honoring the Stories of Illness.
Narrative medicine has emerged in response to a commodified health care system that places corporate and bureaucratic concerns over the needs of the patient………Our Vision: Columbia Narrative Medicine revolutionizes health. care through human connection and critical dialogue to improve health outcomes for all. Moved to action by the stories of others, we expand justice, equity, and attention to self, others, and systems of care“ (5).
In Deutschland wurde am 23. März 2019 das Deutsche Netzwerk für Narrative Medizin gegründet (6).
Kommentar
Der Referent (H.S.) ist skeptisch, ob die Narrative Medizin als „zur EBM komplementäre Medizin“ nicht auch wie etwa die Anthroposophische Medizin als „Paramedizin“ eingestuft werden wird (7), wenn sie sich von dieser auch grundlegend unterscheidet. Oder es könnte ihr ergehen wie der Musiktherapie, die sich trotz unbestreitbarer Vorteile nicht etablieren konnte (8).
Helmut Schatz
Alle Leser werden gebeten, sich frei, ggf. auch unter einem Spitznamen zu den eingangs gestellten Fragen zu äußern.
Literatur
(1) Christoph Böhr: Lauter Bäume, aber kein Wald… Über den blinden Fleck im Denken der Gegenwart.
Vortrag im Auditorium Kloster Stiepel, 17. September 2024
(2) Helmut Schatz: Was Archie Cochrane von einem einzigen Fall lernte.
DGE-Blogbeitrag vom 2. März 2017
(3) Helmut Schatz: David Sackett, der „Vater der Evidenzbasierten Medizin“ mit 80 Jahren gestorben.
DGE-Blogbeitrag vom 22. Mai 2015
(4) Helmut Schatz: Der „Eid des Hippokrates für die heutige Zeit: Das „Ärzte-Gelöbnis der World Health Organisation in der Fassung vom 14. Oktober 2017.
DGE-Blogbeitrag vom 24. Oktober 2017
(5) Columbia University Department of Medical Humanities and Ethics: Division of Narrative Medicine.
https://www.mhe.cuimc.columbia.edu
(6) Deutsches Netzwerk für Narrative Medizin.
https://www.netzwerk-narrativemedizin.de
(7) Helmut Schatz: „Wissenschaftspluralismus – Wissenschaft und Wahrheit.
DGE-Blogbeitrag vom 5. Juni 2021
(8) Helmut Schatz: Musik und Medizin – ein weites Feld. In: „Herabgehudelt“ und „vermaledeytes Hacken“ in den Tasten – Mozart und Schubert über die Interpretation ihrer Werke.
DGE-Blogbeitrag vom 20. Februar 2017
Als langjährig praktizierende Ärztin meine ich auch, dass die Patientenschilderungen mit ihrem persönlichen Erleben doch schon immer zur Anamnese und den Berichten bei den Kontrollvorstellungen gehört haben. Auch die heute so betonte „shared decision“ bezieht das subjektive Empfinden des Patienten ein. Wurde die in den USA nicht so gehandhabt, so dass man eigens Institute und Kurse für „Erzählende/Narrative Medizin“ installieren musste? Ich meine doch nein!
Als Nichtnediziner hörte ich den Vortrag von Prof. Böhr auch. Dass er, wie er schreibt, das „Narrativ als Zauberwort der Postmoderne“ heftig kritisiert habe, wurde von mir als ein doch genauer Zuhörer nicht wahrgenommen. Vielmehr besprach er die neue Sichtweise nach meinem Empfinden als sehr positiv, die auch überall angewendet würde.
Auch ich als Theologe im Auditorium empfand die vielfach erwähnte Bezeichnung „Narrativ“ nicht vom Redner als kritisch, sondern von ihm eher als positiv hervorgehobenes „Zauberwort der Postmoderne“, wie er Helmut Schatz gegenüber (s.o.)
schrieb.
Auch während meines Medizinstudiums in Innsbruck sprachen die Professoren viel über „EBM“ und meinten damit nur Punkt 1 der EBM, die „Best Research Evidence“. Die „narrativen“ Elemente in seinen Punkten 2 und 3 ließen sie immer wegfallen. Sackett muss sich im Grabe umgedreht haben. Also bitte nicht so streng sein mit einem Philosophie-Professor!
Die Narrative bezeichnen in der gesellschaftlichen Debatte eine Erzählung, die bestimmte Erkenntnisse in einen Zusammenhang einbettet, der ideologischen Vorstellungen entspricht oder politischen Zielen dient.
Aus der einfachen Erkenntnis, dass ein Corona- Virus an Erkältungen beteiligt ist, wurde, um der politischen Zielsetzung entgegen zu kommen , das Narrativ vom gefährlichen Virus geschaffen.
Um die Nato- Aufrüstung der Ukraine zu verdecken, wurde das Narrativ vom aggressiven Russland geschaffen
In der Medizin hält sich immer noch das Narrativ vom erhöhten Cholesterin, das gersenkt werden müsse.
Die CO2- Erzählung ist ein beliebtes Narrativ mit gesellschaftspolitischer Zielsetzung.
Mit freundlichen kollegialen Grüßen