Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

Bitte beachten Sie den Haftungsausschluss für medizinische Themen.

Offener Brief der Organisation ‚Zwischengeschlecht.org‘ zu AWMF-Intersex/DSD-Leitlinien


Bochum, 8. November 2014:

Heute erhielt die DGE zusammen mit insgesamt 95 weiteren medizinischen Fachgesellschaften und Persönlichkeiten (Liste aller Empfänger im Originaldokument) einen Offenen Brief, unterzeichnet von 206 Betroffenen, Partnern, Familien, Freunden und Unterstützer-innen zum Thema Intersex. Im Blog der DGE wurde mehrfach über die Intersex-Problematik berichtet, so anläßlich einer Debatte darüber im Deutschen Bundestag (1) und nach Publikation der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates (2). Im Folgenden soll dieser offene Brief allen DGE-Mitgliedern und Besuchern unserer Homepage zur Kenntnis gebracht werden.

Helmut Schatz

Literatur:

(1) H. Schatz: Deutscher Bundestag debattiert als weltweit erstes Parlament über Verbot von Genitaloperationen bei Intersexualität.
DGE-Blogbeitrag vom 16. Mai 2013

(2) H. Schatz: Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Intersexualität, Berlin 2012.
DGE-Blogbeitrag vom 14. März 2012

 

 

Offener Brief zu AWMF-Intersex/DSD-Leitlinien
von Betroffenen, Partnern, Familien, Freunden, Unterstützer_innen

Leipzig, 8. November 2014

Sehr geehrte AWMF-Leitlinienverantwortliche
Sehr geehrte an AWMF-Leitlinien beteiligte Fachgesellschaften

Als Überlebende von nicht-eingewilligten, medizinisch nicht notwendigen Genitaloperationen,
Hormongaben und anderen Eingriffen, als Betroffene, die dankbar sind, solchen Eingriffen
entgangen zu sein, als Partner, Familienmitglieder und Freunde von Betroffenen,
und als Unterstützer_innen sind wir sehr besorgt über angemeldete, bestehende sowie zur
Überarbeitung anstehende AWMF-Leitlinienvorhaben [1], die weiterhin nicht-eingewilligte,
medizinisch nicht notwendige, irreversible, kosmetische Genitaloperationen an Kindern mit
Varianten der Geschlechtsanatomie propagieren sowie sterilisierende Eingriffe und Aufzwingung
von Hormonen, während gleichzeitig Betroffene und ihre Organisationen wenn
überhaupt, dann höchstens punktuell konsultiert werden.

Wir möchten Sie deshalb respektvoll erneut [2] darauf aufmerksam machen, dass nicht-eingewilligte,
medizinisch nicht notwendige, irreversible kosmetische Genitaloperationen, hormonelle
und weitere Eingriffe an Intersex-Kindern

• gegen Grundgesetz und Menschenrechte verstoßen (siehe nachfolgend)
• gegen Strafrecht, Zivilrecht und internationales Recht verstoßen [3]
• gegen ethische Prinzipien und Vorschriften verstoßen [4]
• von Überlebenden seit mehr als 20 Jahren als schädlich und verstümmelnd kritisiert werden.

Wir möchten Sie besonders auf folgende Auflistung von staatlichen und internationalen
Menschenrechtsgremien hinweisen, die alle nicht-eingewilligte Intersex-Behandlungen explizit
kritisieren. Bitte beachten Sie, dass allein im vergangenen Jahr zusätzlich drei weitere
nationale Stellen und nicht weniger als neun weitere internationale Gremien neu nichteingewilligte
Intersex-Behandlungen explizit kritisieren und alle strafrechtliche Verschärfungen
und/oder Entschädigungen diskutieren:

• 24. Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -minister, -senatorinnen und -senatoren der Länder (GFMK), S. 52-54, 1.-2.10.2014
• Interministerielle Arbeitsgruppe Intersexualität/Transsexualität (BMFSFJ, BMG, BMI, BMJV, BMBF) beschließt Prüfung “gesetzliche[r] Regelungsmöglichkeiten für ein Verbot von geschlechtszuweisenden und -anpassenden OPs an minderjährigen Intersexuellen ohne deren ausdrückliche Einwilligung (Ausnahmen bei Lebensgefahr bzw. Vorliegen einer medizinischen Indikation)”, 24.9.2014
• WHO, UNICEF, OHCHR, UN Women, UNAIDS, UNDP, UNFPA Interagency Statement “Eliminating forced, coercive and otherwise involuntary sterilization”, Mai 2014
• Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, Human Rights Comment “A boy or a girl or a person – intersex people lack recognition in Europe”, 09.05.2014
• UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities, CRPD/C/DEU/Q/1, paras 12–13, 17.04.2014
• Australian Senate, Community Affairs References Committee, Second Report: Involuntary or coerced sterilisation of intersex people in Australia, 25.10.2013
• Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1952 (2013) “Children’s right to physical integrity”, paras 2, 6, 7, 01.10.2013
• UN Special Rapporteur on Torture, A/HRC/22/53, paras 77, 76, 88, 01.02.2013
• Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE), Stellungnahme 20/2012 “Zum Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Ethische Fragen zur „Intersexualität“”, 09.11.2012
• Deutscher Ethikrat, Stellungnahme “Intersexualität”, 23.02.2012
• UN Committee against Torture, CAT/C/DEU/CO/5, para 20, 12.12.2011
• UN High Commissioner for Human Rights, A/HRC/19/41, para 57, 17.11.2011
• Special Rapporteur on the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health, A/64/272, para 49, 10.08.2009
• UN Committee on the Elimination of Discrimination against Women, CEDAW/C/DEU/CO/6, para 61–62, 10.02.2009
• San Francisco Human Rights Commission, A Human Rights Investigation into the “Normalization” of Intersex People, 28.04.2005

Wir möchten deshalb aus gegebenem Anlass unsere Bitten wiederholen, künftig in
Leitlinienvorhaben sowie in Ihrer täglichen Praxis

• Empfehlungen für nicht-eingewilligte kosmetische Behandlungen an Kindern und Jugendlichen mit Varianten der Geschlechtsanatomie (einschließlich Hypospadie und AGS) freundlicherweise noch einmal zu überdenken
• die stigmatisierende Nomenklatur “Störungen der Geschlechtsentwicklung” freundlicherweise noch einmal zu überdenken
• dabei Betroffene und ihre Organisationen angemessen zu konsultieren
• den Schaden und das Leid öffentlich anzuerkennen, das durch nicht-eingewilligte kosmetische Behandlungen an Kindern und Jugendlichen mit Varianten der Geschlechtsanatomie (einschließlich Hypospadie und AGS) unbeabsichtigt
verursacht wurde
• einen Prozess der Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu initiieren als notwendigen ersten Schritt für eine Aussöhnung.

Wir denken, einer verantwortungsvollen Medizin und ihren Fachgesellschaften würde in einem
solchen Prozess eine aktive Rolle gut anstehen, und möchten respektvoll zu bedenken
geben, dass es wohl im besten Interesse aller Beteiligten wäre, einen solchen Prozess
einzuleiten, bevor schließlich der Gesetzgeber sich einschaltet.
Wir danken Ihnen für eine wohlwollende Prüfung.

Freundliche Grüße

Daniela Truffer, Markus Bauer (korrespondierende Autoren)
Gründungsmitglieder Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org
Postfach 2122, CH-8031 Zürich
info_at_zwischengeschlecht.org

Liste aller Unterzeichnenden im Originaldokument

[1] Einschließlich:
• 174/001 “Störungen der Geschlechtsentwicklung”
• 027/019 “Leitlinie zur pränatalen Therapie des Adrenogenitalen Syndroms mit 21-Hydroxylase-Defekt”
• 027/022 “Störungen der Geschlechtsentwicklung”
• 027/047 “Adrenogenitales Syndrom”
• 015/052 “Weibliche genitale Fehlbildungen”
• 006/026 “Hypospadie”
[2] Vgl. bisherige Offene Briefe u.a. an: ESPE 19.09.2014, WOFAPS 14.10.2013, ESPE, PES, APEG, APPES, ASPAE,
JSPE, SLEP, SIEDP, 19.09.2013, I-DSD 07.06.2013, DGU 28.09.2012, ESPE 21.09.2012, DGKJ, DGKCH
15.09.2012, ESPU 11.05.2012, DGE 09.03.2012, JA-PED 13.11.2011, ESFFU-ESGURS, EAU 06.10.2011, ISHID
18.09.2011, Euro-DSD 21.05.2011, DGE, CAEK 01.04.2011, JA-PED 05.11.2010, DGKJ, DGKCH 18.09.2010
[3] Am 03.09.2008 wurde in Köln ein Chirurg zur Zahlung von € 100’000 Schadenersatz verurteilt (Oberlandesgericht
Köln, 5 U 51/08). 2014 ist in Nürnberg/Fürth ein weiteres Verfahren hängig gegen einen Chirurg sowie die
Universitätsklinik Erlangen. In einem derzeit hängigen Verfahren auf Staats- sowie Bundesverfassungsebene in
South Carolina (USA) sind sämtliche BehandlerInnen sowie die Universitätsklinik und zuständige Fürsorgestellen
und MitarbeiterInnen angeklagt. 2014 wurden Anträge, die Verfahren gegen nicht-chirurgisch tätige Angeklagte
einzustellen, auf allen Ebenen von den zuständigen Gerichten abgelehnt.
Zur strafrechtlichen Ahndung von nicht-eingewilligten Intersex-Eingriffen und eventuelle Verschärfungen vgl.
weiter Antwort der Bundesregierung an den UN-Behindertenrechtsausschuss vom 29.08.2014
(CRPD/C/DEU/Q/1/Add.1, S. 16, 17).
[4] Nachweise vgl. bisherige Offene Briefe (oben Fußnote 2)

 

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