Bochum, 2. Februar 2013: Das gestern bekanntgegebene Resultat einer Cochrane-Analyse über 12 randomisierte, kontrollierte Studien ergab für Herz-Kreislauferkrankungen keinen präventiven Effekt einer Selen-Supplementation (1). Eine zweite Publikation von Januar 2013, eine Übersichtsarbeit über „Selen und die Schilddrüse“ bespricht recht umfassend die zu diesem Thema vorliegenden experimentellen Ergebnisse und mögliche klinische Schlussfolgerungen daraus (2).
Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie hat in ihrem Blog-Beitrag vom 19. März 2012 berichtet, dass Selenzufuhr das Diabetes-Risiko erhöhen kann (3). Seit der Publikation von Margaret Rayman im Jahre 2000 (4) wurde und wird für Selen immer wieder eine Rolle bei einer breiten Palette von Erkrankungen postuliert, unter anderem auch bei Herzkreislaufkrankheiten, sowie bei Schilddrüsenerkrankungen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hatte in einer Mitteilung darauf hingewiesen, dass es für eine Selen-Supplementation zur kardiovaskulären (CV) Prävention keine Beweise gäbe und auch negative Interventionsstudien angeführt (5). Jetzt liegt eine Cochrane-Analyse vor, welche dies untermauert (1). Es wurden 12 randomisierte kontrollierte Studien mit >19 000 Personen analysiert. Es fand sich kein Einfluss von Selen auf CV Endpunkte einschließlich CV- und Gesamt-Mortalität. Eine geringe Diabetes-Zunahme erreichte kein Signifikanz-Niveau. Man fand aber unter Selen deutlich häufiger eine Alopezie (RR 1.28) und Dermatitiden (1.17).
Die Übersichtsarbeit zu Selen und Schilddrüse in „Clinical Endocrinology “ (2) trägt den Untertitel „More Good News for Clinicians. Sie bezieht sich in erster Linie auf Ergebnisse von experimentellen Arbeiten. Über praktische Konsequenzen daraus zur Frage einer Selentherapie heisst es: „Although clinical applications still need to be defined for Hashimoto´s disease, they are very interesting for pregnant women given that supplementation significantly decreases the percentage of postpartum thyroiditis and definite hypothyroidism”. Vorteile von Selen werden auch beim Morbus Basedow und der Endokrinen Orbitopathie beschrieben, wenn diese auch nicht übermässig groß erscheinen.
Kommentar des Referenten
In mit Selen gut versorgten Regionen der Erde wie in den USA oder auch bei uns, vielleicht mit Ausnahme von Veganern oder künstlich ernährten Menschen, kommt einer Selenzufuhr zur Prävention von CV Erkrankungen wohl kaum eine Bedeutung zu. Anders mag es in Regionen mit einem Selenmangel sein wie etwa in den nördöstlichen Provinzen Chinas. Dort hat man in den 1970er Jahren gesehen, dass bei Selenmangel eine besondere Form einer juvenilen Kardiomyopathie, die „Keshan-Erkrankung“, auftritt, die unter Selen-Supplementation zurückgeht. Auch bei der „Kashin-Beck-Erkrankung“, einer Osteoarthropathie mit Zwergwuchs, wird ein Selenmangel diskutiert. In unseren Regionen soll Selen, wenn man es geben will, möglichst nicht bei einem Selenspiegel von >122 Mikrogramm/ml verabfolgt werden, da nach den Erfahrungen in den USA dann das Diabetesrisiko das auf über Dreifache steigt (6). Das therapeutische Fenster ist bei Selen sehr schmal, im Unterschied etwa zu Vitamin D, welchem gegenwärtig eine ähnlich breite Bedeutung bei vielen Erkrankungen zugeschrieben wird wie dem Selen in den ersten Jahren nach der Lancet-Arbeit 2000 (4). Eine „Selenose“ kann ausgeprägte Symptome haben und im Extremfall bei hochdosierter Selengabe sogar zum Tode führen (3).
Den höchsten Selengehalt pro Gramm Gewebe weist die Schilddrüse auf, die es physiologisch für spezifische Selenoproteine wie etwa die Dejodasen benötigt. Wo und welchen Nutzen aber eine therapeutische Selengabe bei Schilddrüsenerkerkrankungen bringt oder nicht, wird auch unter Thyreologen diskutiert. Große Interventionsstudien sind hier noch ausständig.
Helmut Schatz
Literatur
(1) K. Rees et al.: Selenium supplementation for primary prevention of cardiovascular disease. Cochrane Database Syst Rev 2013; DOI:10.1002/14651858.CD009671.pub2.
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/14651858.CD009671.pub2/abstract
Medscape. Feb 01, 2013-02-03
(2) A.Drutel et al.: Selenium and the Thyroid Gland. More Good News for Clinicians
Clin Endocrinol. 2013; 78(2):155-164
(3) H. Schatz: Erhöht Selenzufuhr das Risiko für einen Typ-2-Diabetes?
Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie, Blog-Beitrag vom 19. März 2012
(4) M. Rayman: The Importance of Selenium in Human Health.
Lancet 2000. 356:233-241
(5) Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Info 2011: Selen und Herzkreislauf-Krankheiten
http://www.dge.de/modules.php?name=News&file=print&sid=1188
(6) B.Goodman: Selenium supplements may increase risk of type 2 diabetes.
http://www.medscape.com/viewarticle/759497_print
Wer sich nicht einseitig ernährt, z.B. kein Veganer oder Alkoholiker ist, nicht ständig sehr fett isst, Übergewicht meidet, körperlich aktiv ist – und hoffentlich nicht raucht, braucht auch bei uns in Mitteleuropa keine Selenpräparate zur Vorbeugung von Herz-Kreislauferkrankungen. Leider erlebe ich es bei manchen „gesundheitsbewussten“ unter meinen Bekannten, dass sie dennoch Selen einnehmen, zwei davon sogar 100 bzw. 300 /ug täglich. Solche Präparate sind zwar rezeptpflichtig, aber “ über das Internet bekäme man ja alles…“. Es gilt anscheinend der Grundsatz „Viel hilft viel“. Danke für den Beitrag!
Antworten des Kommentators
Zu Max:
Deutschland ist insgesamt nach den Berichten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und des Robert-Koch-Instituts im Mittel kein Selenmangel-Land. Freilich ist die Selenversorgung in den USA höher. Sie haben völlig Recht: Von individuellen Ausnahmen mit niedrigem Selenspiegel abgesehen, benötigt man in Deutschland bei gesundem Lebensstil mit ausgewogener Ernährung zur kardiovaskulrären Prävention kein additives Selen. In der Roten Liste, dem deutschen Arzneimittelverzeichnis, lautet die Indikation für Selenpraparate: „Bei (nachgewiesenem) Selenmangel“. Ab 200 mg besteht Rezeptpflicht. In meiner Praxis erlebe ich es aber immer wieder, daß vor allem Frauen von sich aus größere Selenmengen regelmäßig zuführen, da dies z.B. im Internet „für ein schönes. glänzendes Haarkleid“ angepriesen wird. Messe ich ihren Selenspiegel, liegt dieser oft ein Vielfaches über der oberen Referenzgrenze. Deshalb wurde in der Pressemitteilung der DGE vom 12. Fewbruar 2013 auch darauf hingewiesen, vor Seleneinnahme mit dem Arzt zu sprechen
Zur ersten Mail an mich:
Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie führt den Untertitel: „Hormone und Stoffwechsel“. Warum sollte sie sich nicht zum Thema „Selen und Herz-Gefäßstoffwechsel/Arteriosklerose äußern dürfen, wie kritisiert wurde? Sollte dies nur die apostrophierte „Selen Community“ dürfen? In der Cochrane-Analyse waren die zwei größten der 12 randomisierten Studien aus dem gut mit Selen versogten USA. Warum aber sollte man das Ergebnis nicht deutschen Ärzten mitteilen dürfen?
Zur zweiten Mail:
Diese hat mich erfreut: Ich wurde aufgefordert, „so weiterzumachen“ und nicht „Gefällikeitsberichte“ zu schreiben. Nur so bliebe die DG “ jung und lebendig“.