Bochum, 22. November 2023:
Wissenschaftliche Zeitschriften und Medien sind voll von Fachartikeln bzw. – zumeist positiven – Berichten über Semaglutid (Wegovy® und Ozempic®). Es geht in jüngster Zeit vor allem um die Gewichtsreduktion bei übergewichtigen und adipösen Menschen ohne Diabetes, und um einem kardiovaskulären sowie einen renalen Nutzen. Die Artikel in unserem DGE-Blog befassten sich in den vergangenen Wochen und Monaten mit den diesbezüglichen Publikationen in der seriösen Fachpresse einschließlich Zulassungsstatus bei FDA und EMA. In den Medien herrscht, von vielen so bezeichnet, ein „Hype“ um die „Abnehm-“ oder „Fett-weg-Spritze“.
Der Leiter des Dossiers WISSENSCHAFT in der Wochenschrift „DIE ZEIT“, der Mediziner und Journalist Jan Schweitzer, der unsere DGE-Blogs regelmäßig zugeschickt bekommt und liest, somit auch unsere Berichte über Semaglutid, rief mich am 13. November 2023 an und bat um ein Interview über Semaglutid. Dieses erschien in der „ZEIT“ am 16. November 2023. Ich bekam daraufhin zahlreiche Anrufe und Mails von Lesern. Einige DGE- Mitglieder darunter baten mich, den Inhalt auch in unserem Blog bekanntzugeben, was hiermit geschieht.
Helmut Schatz
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Jan Schweitzer, DIE ZEIT:
„Eine Revolution würde ich es nicht nennen“.
Die Abnehmspritze Wegovy könnte auch noch vor Herzinfarkten schützen. Trotzdem warnt der Diabetologe Helmut Schatz vor überzogenen Erwartungen an das Medikament.
DIE ZEIT: Herr Schatz, Sie arbeiten seit den Siebziger Jahren als Internist, beschäftigen sich schon lange wissenschaftlich mit Diabetes – haben Sie eine Situation schon mal erlebt, in der ein Medikament übergewichtigen Patientinnen und Patienten so große Vorteile brachte wie jetzt im Fall von Semaglutid? Viele sprechen von einer medizinischen Revolution.
Helmut Schatz: Eine Revolution würde ich es nicht nennen. Es ist aber eine rasante Entwicklung, die wir gerade in der Therapie des Übergewichts sehen.
ZEIT: Warum so vorsichtig? Viele Expertinnen und Experten überschlagen sich, wenn sie von den sogenannten GLP-1-Analoga wie Semaglutid sprechen. Sie schwärmen von der überragenden Wirkung für Patienten, die Gewicht abnehmen wollen.
Schatz: Es ist noch ungewiss, wie die Langzeitwirkung dieser Medikamente ist. Dafür gibt es noch keine Erfahrungswerte. Und es gibt auch den Verdacht auf schwere Nebenwirkungen.
ZEIT: Welche sind das?
Schatz: Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) untersucht gerade, ob es unter der Einnahme von Semaglutid vermehrt zu Gedanken an Selbstmord und Selbstverletzungen kommen könnte. Zuvor hatte es Berichte darüber aus Island gegeben.
Zeit: Was könnte der Grund dafür sein?
Schatz: Das Semaglutid bewirkt, dass man weniger Hunger hat, und es ist vorstellbar, dass allein der fehlende Appetit manche Menschen auf solche Gedanken kommen lässt, vor allem solche, die schon vorher depressiv veranlagt waren. Essen ist ja auch ein Mittel der Belohnung und bringt Freude – das fehlt dann womöglich, wenn man das Medikament einnimmt. (So meine Nach-Nachfolgerin in der Leitung meiner ehemaligen Bochumer Klinik, Frau Prof. Wiebke Fenske, in dem von uns gemeinsam publizierten DGE-Blogbeitrag vom 18.10.2023.)
Zeit: Könnte es passieren, dass Patienten weniger auf ihre Ernährung achten, weil sie meinen, durch das Medikament sei alles gut und sie hätten alle Freiheiten beim Essen?
Schatz: Ja. Semaglutid könnte dazu verführen, dass man weiter so wie bisher isst, nur wegen Appetitlosigkeit weniger. Die Basis beim Abnehmen ist aber immer noch die richtige Ernährung, auch wenn man ein Medikament nimmt. Das ist ganz wichtig.
Zeit: Wie lange wird man das Mittel einnehmen müssen, um sein niedrigeres Gewicht zu halten – und kann man irgendwann aufhören?
Schatz: Das weiß man noch nicht. Aber man hat Erfahrung mit dem Zuckerspiegel im Blut. Semaglutid ist ja als Diabetesmedikament entwickelt worden, es senkt den Blutzucker. Und in Studien zeigte sich, dass dessen Konzentration wieder anstieg, wenn man das Mittel wegließ. Ähnliches ist beim Gewicht zu erwarten.
Zeit: Wenn man also noch gar nicht so viel weiß über die Wirkung von Semaglutid: Warum lobpreisen es dann so viele Experten? Spielt da eine Rolle, dass viele von der Pharmaindustrie gesponsert werden, für Vorträge oder Fachbeiträge? Oder dass ihre Studien mit dem Medikament mitfinanziert werden von den Herstellern?
Schatz: Das will ich nicht ausschließen. Aber man muss auch sagen: Ohne die Pharmafirmen gäbe es solche Medikamente gar nicht, die Forschung durch die Industrie ist sehr wichtig. Und die Kollegen, die solche Studien machen, sind meist wirklich von der guten Wirkung überzeugt. Wenn man eine Studie macht, dann sollte man davon auch überzeugt sein. So wie ein Fußballer davon überzeugt sein muss, dass er ein Tor schießt.
Zeit: Haben Sie sich auch sponsern lassen?
Schatz: Als ich noch Klinikchef war, bis 2003, wurde ich von vielen Firmen zu Vorträgen und Kongressen eingeladen, es wurden mir zum Teil Honorare geboten für die Erst- oder Senior-Autorenschaft bei Publikationen. Das habe ich nicht gemacht. Seit ich emeritiert bin, werde ich fast nur noch von Fachkollegen kontaktiert, von Firmen kaum mehr. Ich fühle mich also tatsächlich unabhängig – und bin vielleicht auch deshalb beim Semaglutid so abwartend.
Zeit: Wann wäre es Ihrer Ansicht nach denn angemessen, von einer Revolution zu sprechen?
Schatz: Die Einführung des Insulins für Diabetespatienten war eine Revolution. Das hat vielen Menschen das Leben gerettet, und durch die Gentechnologie war es auch in großer Mengen verfügbar. Oder die Entdeckung von Antibiotika wie Penicillin und Streptomycin, mit denen man Infektionskrankheiten behandeln konnte, die bis dahin tödlich waren.
Zeit: Und über das Semaglutid haben Sie gar nichts Positives zu sagen?
Schatz: Doch, auf jeden Fall! Die aktuelle Studie etwa, die zeigt, dass es Patienten vor Herzinfarkten schützen kann, die schon ein Herzkreislaufereignis hatten, die somit ein erhöhtes Risiko für einen erneuten Infarkt oder Schlaganfall hatten. Semaglutid ist aber nicht das einzige Medikament auf diesen Gebiet.
Zeit: Welche gibt es noch?
Schatz: Den Wirkstoff Tirzepatid (Monjaou®) etwa, da geht das Gewicht sogar weiter runter als unter Semaglutid. Und wahrscheinlich hat er ebenfalls eine schützende Wirkung auf das Herz , auch bei Menschen, die nicht an Diabetes leiden. Tirzepatid wird hier in Europa wohl bald auch für die Behandlung von Übergewicht ohne Diabetes zugelassen. In den USA ist es dafür bereits auf dem Markt (Handelname Zepbound™). Und es stecken andere Wirkstoffe in der Entwicklung, die vielleicht noch besser das Gewicht senken können.
Zeit: Wird die Therapie dann auch günstiger? Momentan kosten sie mehrere Hundert Euro im Monat – die wahrscheinlich lange Zeit gezahlt werden müssen, wenn man nicht wieder an Gewicht zulegen will.
Schatz: Günstiger könnte es werden. Aber die Herstellerfirmen haben noch ein paar Jahre einen Patentschutz auf ihre Wirkstoffe. Erst danach können andere Pharmafirmen mit Generika auf den Markt kommen. Dann werden die Preise fallen
Zeit: Weiß man denn inzwischen, wie Semaglutid genau wirkt? Es gibt Experten, die sagen, die schützende Wirkung auf das Herz und die Gefäße könne nicht allein an der Gewichtsreduktion liegen.
Schatz: Ja, das sehe ich auch so. Es wirkt zentral im Gehirn, das weiß man. Wo vielleicht noch, da kann man nur Vermutungen anstellen. Es wird auch eine Wirkung über das Fettgewebe diskutiert. Letztlich ist es aber auch gar nicht so wichtig. Wenn Sie Auto fahren, müssen Sie ja auch nicht genau wissen, wie Zündung, Ventile und Vergaser exakt funktionieren (oder der Fernseher, wenn Sie ihn über die Fernbedienung einschalten und das Bild erscheint).
Zeit: Ich würde aber schon erwarten, dass VW oder Opel das wissen.
Schatz: Die Pharmafirmen sind daran auch interessiert. Aber bisher haben die Grundlagenwissenschaften und die forschende Industrie noch nichts wirklich Genaues finden können. Das ist bei vielen anderen Medikamenten oft ähnlich.
Zeit: Es tauchen zuletzt vermehrt Bericht darüber auf, dass Semaglutid nicht nur das Gewicht senkt oder das Herz schützen kann, sondern noch ganz andere Wirkungen haben könnte.
Schatz: Richtig. Es schützt auch die Nieren. Und bei Suchterkrankungen wie Alkohol– oder Nikotinabhängigkeit könnte es helfen. Es gibt erste Hinweise in dieser Richtung. Und der Hersteller Novo Nordisk testet bei Menschen, die im Frühstadium an Alzheimer erkrankt sind, ob es bei ihnen die Demenz aufhalten kann. Das wäre fantastische. Da muss man aber abwarten.
Zeit: Das klingt zumindest danach, als schauten Sie hoffnungsvoll in die Zukunft, was diese Medikamentenklasse betrifft.
Schatz: Ja, natürlich! Ein Arzt soll immer positiv denken, das habe ich in meinem Berufsleben immer so gehalten.
Literatur
Jan Schweitzer, in: DIE ZEIT, Ausgabe vom 16. November 2023, Seite 39
GLP-1-Agonisten erhöhen das Risiko für Aspirationspneumonien nach Narkose und Operationen, kann man in JAMA Surgery 2024 lesen. Bei jedem Zweiten findet man sonographiscjh auch nach dem einzuhaltenden Intervall seit der letzten Zufuhr sonographisch noch Speisereste im Magen. Die Anzahl von gefürchteten postoperativen Aspirationspneumonien ging in den USA wohl als Folge davon (?) im letzten Jahr in die Höhe.