Bochum, 1. Dezember 2022:
Die Sexualität von älteren bis alten Menschen wird vielfach ignoriert, oder sie stellt ein Tabu dar. So meint etwa die jüngere Generation, dass Sexualität für ihre Großeltern kein Thema mehr sei. Dass dem nicht so ist, wurde auf dem 2022 Scientific Meeting of the Gerontologic Society of America in einem Referat von Dr. Janie Steckenrider aus Los Angeles besprochen (1).
Die bisherigen Untersuchungen über die sexuelle Aktivität dieser Altersgruppe bezogen sich meist nur auf den Partnerschaftssex, obwohl viel ältere und alte Menschen „solo sex“ praktizieren (= Masturbation). Dies, weil sie keinen Partner haben, dieser gestorben ist, der Partner eine sexuelle Dysfunktion aufweist oder der „penetrative sex“ schmerzhaft ist.
Der penetrierende Sex gilt als kulturelle Norm. Er wird aber mit zunehmenden Alter weniger wichtig und verschiebt sich in der sexuellen Hierarchie zu mehr emotionaler Intimität wie Berührungen und Streicheln. Von 17 der Fragebögen von Umfragen in der Bevölkerung bezogen sich 11 ausschließlich auf Sex mit einem Partner und nur fünf fragten auch nach Masturbation. In einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage bei 1002 Personen im Jahre 2018 der Universität von Ann Arbor, Michigan (2) gaben 40% der Befragten von 65-80 Jahre an, sexuell aktiv zu sein. Inzwischen ist der Prozentsatz bei dieser Altergruppe noch gestiegen . Zwei Drittel sagten, sie seien an Sex interessiert, und über die Hälfte, dass Sex für ihre Lebensqualität sehr wichtig sei. Auch in dieser Umfrage wurde der Ausdruck „sexuell aktiv“ nicht definiert.
Sheryl A. Kingsberg von der Abteilung für Verhaltensmedizin im Department für Geburtshilfe und Gynäkologie des Universitätskrankenhauses von Cleveland, Ohio war überrascht, dass nur wenige der von Dr. Janie Steckenrider analysierten 17 Studien die Masturbation in ihre Definition von Sexualität einbezogen haben. Klinische Studien über Behandlungsmöglichkeiten für weibliche Probleme wie vermindertes Sexualverlangen oder Schmerzen beim Sex beinhalten bei den Fragen nach sexueller Aktivität auch die nach weiblicher Masturbation (1).
Beide Referentinnen, J. Steckenrider und S.A. Klingsberg ermuntern Ärzte und Personal der Gesundheitsfürsorge, ihre Patienten im Hinblick auf die sexuelle Gesundheit auch die Probleme beim Sex – im weiter gefassten Sinne wir oben beschrieben – anzusprechen. Für die Kliniker ist es wichtig, die richtigen Fragen, auch ins Detail gehend zu stellen: Fragen Sie nicht „Sind sie sexuell aktiv?“ o.ä. , die mit Ja oder Nein zu beantworten sind. Besser etwa: Wie oft praktizieren Sie die verschiedenen Arten von sexueller Aktivität? Und dann spezifische Fragen über Küssen, Streicheln Berühren, Petting und Masturbation.
Die Publikation (2) über das Resultat der 2018-Umfrage an einer repräsentativen Bevölkerungsgruppe schließt mit den Worten: „A key takeaway from the poll…is that there appears to be opportunity for more proactive conversations between providers and their older patients about sexual health (2).
Addendum: Am 1. August 2012 wurde im DGE-Blog berichtet (3), dass Diabetes-Patientinnen (n=2240) unter oralen Antidiabetika oder Insulin gegenüber stoffwechselgesunden Frauen eine verminderte Sexualität aufwiesen, bestimmt mit dem Female Sexual Arousal Index (FSAI) . Eine Befragung über ihre Sexualität in den letzten 3 Monaten vorher schloß auch die Masturbation ein. Auf die Wichtigkeit der Befragung von Menschen mit Diabetes nicht nur bei Männern über eine erektile Dysfunktion, sondern auch bei Frauen über ihre Sexualität wurde hingewiesen (3).
Helmut Schatz
Literatur
(1) Eliza Partika: Not Your Grandparent´s Sexual Activity. Medscape – Nov 03, 2022
(2) Erica Solvay…Allison Bryant: Sex after 65. Poll of adults finds links to health, gender differences, lack of communication with doctors.
Institute for Healthcare Policy & Innovation, University of Michigan. IHPI News 2018
(3) Helmut Schatz: Verminderte sexuelle Funktion bei Frauen mit Diabetes.
DGE-Blogbeitrag vom 2. August 2012
Zum Thema der vielen Formen der Sexualität erschien vor einigen Tagen in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) ein Artikel, in welchem die Sexologin Jan Welch auch weniger Penetration und keine Überbewertung des Orgasmus, dafür aber mehr Berührung, Streicheln und dem Partner tief in die Augen schauen, anstatt eines routinemäßigen, flüchtigen Kusses empfahl.
Ein Tabu gibt es auch mit der Menstruation von Sportlerinnen.
Die US-Schifahrerin Mikaela Shiffrin durchbrach es, als sie nach ihrem Riesenslalom-Sieg in Kronstadt sagte, sie habe gerade nicht die beste Zeit mit ihrem „monthly cycle“. Der Übersetzer im Fernsehen machte daraus „mit dem Radfahren, das sie monatlich betreibt“ o.ä. Dies sorgte in den sozialen Medien für Belustigung.