Am 30. September 2014 gab Medscape Deutschland ein umfangreiches Dossier über die zahlreichen therapeutischen Neuerungen in der Diabetologie heraus, zu dem ich gebeten wurde, ein Editorial zu schreiben. Frau Sonja Böhm, Chefredakteurin von Medscape, erteilte mir freundlicherweise die Genehmigung, diesen Text auch im Blog der DGE zu publizieren.
Primum nil nocere!
Primum nil nocere – diesen antiken Wahlspruch aus dem Corpus Hippocraticum haben wir Ärzte alle im Studium gehört und ihn für so selbstverständlich genommen, dass wir ihn kaum hinterfragt haben. Anders ein mir befreundeter Jurist, als er diesen Spruch erstmals in einem meiner Beiträge auf der Homepage der DGE las. Verwundert kommentierte er ihn: „Ein Patient geht doch primär zum Arzt, damit ihm geholfen wird, und nicht, damit man ihm nicht schadet“. In der sich anschließenden Diskussion in kleiner Nicht-Medizinerrunde führte ich dann aus, dass es kaum ein wirksames Medikament gebe, dass nicht Nebenwirkungen habe, dass nach Paracelsus die Dosis das Gift mache und dass der Arzt immer sehr gewissenhaft Nutzen und Risiken eines Medikaments abwägen und mit dem Patienten besprechen müsse. Auch andere, mögliche Medikamente und Behandlungsmethoden sind zu erörtern. Erst, wenn sich der Patient einverstanden erklärt, darf der Arzt tätig werden.
Insulin ist das älteste antihyperglykämische Medikament. Bei Typ-1-Diabetes ist es alternativlos, sieht man von der Pankreas- und Inseltransplantation ab. Deswegen gab und gibt es dazu auch keine placebo-kontrollierten randomisierten Studien. Das ist bei den neuen Insulinpräparaten freilich anders. Dazu zählen die langwirkenden Analoga Glargin (Lantus®), Degludec (Tresiba®), Glargin-Biosimilar (Abasria®) und wohl bald das U300 von Glargin (Toujeo®), das PEGylierte Lispro-Insulin sowie die ultrarasch wirkenden Insulinpräparate U400-BIOD-531, FIAsp, Hyaluronidase-Insulin und das inhalative Insulin (Afrezza™). Für all diese müssen die Nebenwirkungen wie etwa Hypoglykämieneigung, Gewichtszunahme, kardiovaskuläre und pulmonale Sicherheit, Leberverträglichkeit und potenzielle Kanzerogenität sorgfältig geprüft werden. Wie aufwendig das ist, sah man in den letzten Jahren bei Glargin, das jetzt erst das Unbedenklichkeitszeugnis der Behörden erhielt.
Inkretin-basierte Therapien: Neu und mit aller Macht drängen die Inkretin-basierten Therapien auf den Markt. Die GLP-1-Analoga machen den Insulinen beim Typ-2-Diabetes Konkurrenz und besonders in der kombinierten Gabe von langwirkenden Insulin-Analoga mit einem GLP-1-Rezeptoragonisten sind sie nach ersten Resultaten gut wirksam (Fixkombinationen IDecLira und LixiLan). Liraglutid 3mg wurde außerdem erst kürzlich zur Adipositastherapie von der FDA zugelassen. Und die Verschreibungsziffern Di-Peptidyl-Peptidase-4 (DPP-4) – Hemmer schießen in die Höhe, die Präparate haben in den USA den Umsatz von Lantus erreicht und überschritten. Umso wichtiger erscheint es, die Langzeitsicherheit dieser neuen Medikamente zu prüfen. Die FDA und EMA sehen zurzeit zwar kein Risiko für Pankreaskrebs, wollen aber dieses Problem weiter beobachten. Pankreatitiden dürften wohl gehäuft auftreten und bei den GLP-1-Analoga wird auch das Medulläre Schilddrüsenkarzinom ins Visier genommen. Gastrointestinale Nebenwirkungen sind zu Therapiebeginn häufig, nehmen später aber zumeist ab. DPP-4-Hemmer führen wohl zu vermehrter Herzinsuffizienz, zumindest dürften sie eine vorbestehende verschlechtern.
Abzuwägen gilt es aber nicht nur bei Neuerungen, auch die schon lange bekannten Wirkstoffe sind immer wieder zu überprüfen: Sulfonylharnstoffe und Glinide können, insbesondere bei unsachgemäßem Einsatz, die Hypoglykämierate und das Gewicht steigern. Dass sie das kardiovaskuläre Risiko erhöhen, erscheint möglich, ist aber immer noch nicht eindeutig geklärt. Die Resultate der ADVANCE-Studie sprechen unter den Sulfonyharnstoffen für einen bevorzugten Einsatz von Gliclazid.
Metformin als Therapie der Wahl beim Typ-2-Diabetes hat ein sehr kleines, zunehmend immer geringer eingeschätztes Laktatazidoserisiko bei Niereninsuffizienten. Die gastrointestinale Verträglichkeit stellt bei einem kleineren Teil der Patienten ein Problem dar. Dass sie das kardiovaskuläre und das Krebsrisiko senken, ist möglich. Die Frage sollte in der auf dem EASD-Kongress in Wien 2014 vorgestellten GLINT-Studie geklärt werden können.
Thiazolidindione sind bei uns fast vom Markt verschwunden, Rosiglitazon ist überhaupt nicht mehr erhältlich. Kardiovaskuläre Erkrankungen, Gewichtszunahme durch Flüssigkeitsretention, Knochenbrüche durch Osteoporose und mit Pioglitazon möglicherweise noch gesteigerte Harnblasenkarzinome sind die Ursache dafür.
Alphaglukosidase-Hemmer sind, sieht man von einem beträchtlichen Prozentsatz gastrointestinaler Unverträglichkeiten ab, eine recht sichere Therapieoption. Möglicherweise wird das kardiovaskuläre Risiko gesenkt.
SGLT2-Hemmer wirken gut antihyperglykämisch und können mit jeder anderen Präparategruppe kombiniert werden. Ein Vorteil ist die Gewichtsabnahme. Nachteilig sind insbesondere im ersten Monat der Anwendung Hypovolämien, Exsikkoseneigung und Hypotonien und auch Schlaganfälle, insbesondere bei Älteren, sowie Infekte des Urogenitaltrakts, vor allem Vaginalmykosen und Balanitiden.
Auch über die boomende Bariatrische Chirurgie, die Präzision und Sicherheit der Medizingeräte wie Insulinpumpen und Blutzuckermessgeräte gibt es viel Diskussion.
Der Arzt, welcher Diabetespatienten betreut, sollte alle diese Probleme und die Nebenwirkungen gut kennen und mit seinen Patienten erörtern. Manche Pharmavertreter sprechen diese meist nur kurz oder auf besondere Nachfrage an. Etliche Redner, insbesondere bei firmengesponserten Veranstaltungen, erwähnen in den Vorträgen die Nebenwirkungen auch nicht adäquat in Relation zu den Vorteilen der neuen Präparate.
Fazit: Die Vorteile und Nachteile der alten Präparate kennt man schon sehr lange, im Unterschied zu den neuen. Bei diesen zeigen sich – naturgemäß – zurzeit erst die Vorteile, nicht aber die Langzeiteffekte. Das gilt für deren Effektivität genauso wie für deren Sicherheit. Nicht nur Medikamente, auch Eingriffe und Geräte müssen einer rigorosen Prüfung standhalten. Das gilt vor allem für die Bariatrische Chirurgie und für Insulinpumpen. Gerade im Hinblick auf die Prüfverfahren für letztere besteht dringend Handlungsbedarf der Behörden.
Ein Rat von Shakespeare lautet:
The wise man grasps the new – it should be tried.
But fool is he in haste who lays the old aside.
Für den Umgang mit Antidiabetika ist das nicht der schlechteste Rat.
Helmut Schatz
Bochum, 30. September 2014
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Lieber Herr Schatz, danke für diese kurze Übersicht, die sehr hilft die vielen Neuerungen vorläufig einzuordnen.
Zum Thema SH kann man nur die Nebenwirkungen in der dreiarmigen ADOPT-Studie und das Cochrane Review von B. Hemingsen emfpehlen.
Liebe(r) UAM,
danke für den positiven Kommentar. Ihre 2 Literaturstellen möchte ich näher beschreiben:
1.) ADOPT (Kahn et al., NEJM 2006): Vascular serious adverse events with Rosiglitazone, Metformin or Glyburide: Cardiovascular disease 3.4%, 3.2%, or 1.8%, myocardial infarction, fatal: 0.1%, 0.1%, or 0.2% (n= 2, 2 or 3); non-fatal: 1.5%, 1.2%, or 0.8%.
2.) Cochrane- Analyse (Hemmingsen et al. 2013): Conclusions: “ There is insufficient evidence from RCT´s to support the decision as to whether to initiate sulphonylurea monotherapy. Data on patient-important outcomes are lacking. Therefore, large-scale and long-term randomized clinical trials with low risk of bias, focusing on patient-important outcomes are required.“
Die GRADE-Studie wird wohl bezüglich des outcomes unter dem Sulfonylharnstoff Glimepirid, Sitagliptin, Liraglutid und Glargin-Insulin als add-on zu Metformin Aufschluß bringen (siehe den DGE-Blogbeitrag vom 17. September 2013)
Lesenswerter Artikel dazu: „The Art of Medicine: First, do not harm“ von Suzanne O´Sullivan im Lancet vom 6. Juni 2015, Vol 385, S. 2246