Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Thyreotoxische Krise: Schaden bestimmte Betablocker wie nichtselektives Propranolol mehr als sie nützen?


Bochum, 1. Dezember 2015:

Die thyreotoxische Krise ist eine seltene, aber schwere Komplikation einer Überfunktion der Schilddrüse (Hyperthyreose). Durch eine Kombination mehrerer Maßnahmen (Intensivmedizinische Betreuung, Thyreostatika, Betablocker, Corticosteroide u. a.) hat sich die Prognose im Laufe der vergangenen Jahrzehnte wesentlich verbessert. Lag die Letalität in den 1930er-Jahren noch bei fast 100%, versterben heute nur noch etwa 10% der Betroffenen. Dennoch ist auch das noch nicht befriedigend. Systematischen Studien, die sich einer verbesserten Versorgung widmen könnten, steht die Seltenheit der Erkrankung entgegen.

Diesem Problem hat sich nun eine japanische Arbeitsgruppe zugewandt. In einer retrospektiven multizentrischen Studie, an der 20% der japanischen Krankenhäuser teilnahmen, haben sie 356 Fälle einer thyreotoxischen Krise untersucht [1]. Voraussetzung für den Einschluss waren positive Akamizu-Kriterien der Japan Thyroid Association [2, 3]. In der untersuchten Kohorte gab es 38 Todesfälle (10,7% der Erkrankten). Neben den Konzentrationen der freien Schilddrüsenhormone haben die Autoren summative klinische Maße für die Schwere der Allgemeinerkrankung (APACHE-II-Score und SOFA-Score) sowie die eingesetzte Medikation erfasst [1].

Wie erwartet, korrelierte die Mortalität hochsignifikant mit den APACHE-II- und SOFA-Scores. Weder die Spiegel der freien Schilddrüsenhormone noch der T3-T4-Quotient als Maß der Dejodierungsleistung waren jedoch geeignet, die Prognose vorauszusagen, obwohl der FT3-Spiegel und der Quotient signifikant mit den klinischen Scores korrelierten.

Überraschenderweise zeigte sich, dass Patienten, die nichtselektive Betablocker erhielten, mit 14,5% eine erheblich höhere Mortalität aufwiesen als die Patienten, die mit Beta-1-selektiven Betablockern behandelt wurden (4,3%). Dies galt auch bei Einzelbetrachtung der eingesetzten Betablocker: Der Einsatz der unselektiven Betablocker Propranolol oder Carteolol war mit einem wesentlich höheren Risiko als der der selektiven Betablocker Bisoprolol, Betaxolol, Metoprolol oder Atenolol assoziiert. Mit 33% war das Risiko am höchsten in einer kleinen Subgruppe, die einen selektiven und einen nicht selektiven Betablocker (Landiolol und Propranolol) gemeinsam erhielt. Die Ergebnisse sind nicht dadurch erklärt, dass die Patienten, die unselektive Betablocker bekamen, kränker gewesen wären, denn die APACHE-II- und SAPS-Scores waren in beiden Gruppen gleich.

Umgekehrt war die Todesrate unter den Patienten, die hochdosiertes Jodid („Plummerung“) erhielten, nicht anders als in der Gruppe, die es nicht erhielt, obwohl hier die APACHE-II- und SOFA-Scores signifikant höher waren. Kaliumjodid scheint daher einen protektiven Effekt zu haben.

Kommentar:

Die Studie bestätigt die altbekannte Tatsache, dass die thyreotoxische Krise nicht durch die Höhe der Schilddrüsenhormone sondern durch die Reaktion des Organismus auf mitunter auch nur leicht erhöhte Spiegel bestimmt wird.

Bislang wurden bei Patienten, bei denen es keine Kontraindikationen (z. B. chronisch obstruktive Lungenerkrakung) gab, unselektive Betablocker vorgezogen, da durch die Blockade des Beta-2-Rezeptors eine Hemmung peripherer Dejodinasen und damit eine verminderte T3-Bildung erwartet wurde [4, 5]. Nach den Ergebnissen der neuen japanischen Studie sollte dies jedoch in Zukunft vorsichtiger gesehen werden. Zumindest bei Patienten mit normalen T3-Spiegeln sind selektive Betablocker vielleicht vorzuziehen.

Interessanterweise waren Patienten mit niedrigerem FT3-FT4-Quotienten zwar schwerer krank, aber ihre Sterblichkeit war nicht erhöht. Dies spricht dafür, dass das bei kritisch Kranken häufig beobachtete Low-T3-Syndrom (NTIS, TACITUS-Syndrom) wohl eher keine behandlungsbedürftige Hypothyreose sondern eine nützliche Reaktion des Organismus darstellt.

Nicht alle Erkenntnisse dieser Studie sind auf europäische Verhältnisse übertragbar. In Japan ist die Jodversorgung überdurchschnittlich hoch [6]. In Regionen mit aktuellem oder ehemaligem Jodmangel wie den meisten europäischen Ländern wird eine Hyperthyreose oft durch autonome Adenome verursacht. Hier empfiehlt sich eine Behandlung mit hochdosiertem Jodid nicht, da in autonomem Schilddrüsengewebe der Plummer-Effekt nicht funktionsfähig ist und daher die Hyperthyreose durch Jodgabe nicht gemildert sondern noch verstärkt werden könnte.

Dr. Johannes W. Dietrich, Bochum

Literatur

(1) Isozaki O et al.: Treatment and management of thyroid storm: analysis of the nationwide surveys: The taskforce committee of the Japan Thyroid Association and Japan Endocrine Society for the establishment of diagnostic criteria and nationwide surveys for thyroid storm.
Clin Endocrinol. 2015. Sep 21. doi: 10.1111/cen.12949. [Epub ahead of print] PMID 26387649.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26387649

(2) Akamizu T et al.: Japan Thyroid Association. Diagnostic criteria, clinical features, and incidence of thyroid storm based on nationwide surveys.
Thyroid. 2012. Jul 22(7):661-79. doi: 10.1089/thy.2011.0334. PMID 22690898.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22690898

(3) Dietrich JW: Thyreotoxische Krise [Thyroid storm].
Med Klin Intensivmed Notfmed. 2012 Sep;107(6):448-53. Epub 2012 Aug 11. Review. German. PMID 22878518.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22878518

(4) Tay S et al.: Beta-blockers and the thyrotoxic patient for thyroid and non-thyroid surgery: A clinical review.
OA Anaesthetics 2013 Mar 01;1(1):5.
http://www.oapublishinglondon.com/article/491

(5) 5: Carroll R, Matfin G: Endocrine and metabolic emergencies: thyroid storm.
Therapeutic Advances in Endocrinology and Metabolism. 2010;1(3):139-145. doi:10.1177/2042018810382481.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3475282/

(6) Iodine Global Network: Global Iodine Nutrition Scorecard 2015.
http://ign.org/cm_data/Scorecard_2015_August_26.pdf

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Publiziert am von Dr. Johannes W. Dietrich
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3 Antworten auf Thyreotoxische Krise: Schaden bestimmte Betablocker wie nichtselektives Propranolol mehr als sie nützen?

  1. Maja5 sagt:

    Sehr geehrter Dr. Dietrich,

    Hier Zitat:

    „Interessanterweise waren Patienten mit niedrigerem FT3-FT4-Quotienten zwar schwerer krank, aber ihre Sterblichkeit war nicht erhöht. Dies spricht dafür, dass das bei kritisch Kranken häufig beobachtete Low-T3-Syndrom (NTIS, TACITUS-Syndrom) wohl eher keine behandlungsbedürftige Hypothyreose sondern eine nützliche Reaktion des Organismus darstellt.“

    Low-T3-Syndrom – eine nützliche Schutzreaktion des Organismus. Wie man oft lesen kann. Es ist aber nur eine Annahme und Interpretationsfrage.

    Es kann auch gut sein, daß T3 durch eine Infektion o.A. intensiver verbraucht wird, daher werden, während einer Krankheit, wie auch bei körperlicher Betätigung, niedrigere T3-Spiegel gemessen.

    Eine ähnliche Interpretation des höheren fT3-Spiegels in der Nacht: es kann genau so gut sein, daß fT3 in der Nacht höher gemessen wird, weil man während der Nachtruhe weniger verbraucht, und nicht, weil man in der Nacht mehr produziert.

    Können Sie anhand Ihres Wissenspotentials meine Theorie wiederlegen?

    MfG
    Maja5

  2. Sehr geehrte MAJA5,

    Ich kann und will Ihre Theorie nicht widerlegen. Dazu wäre das Thema NTIS auch zu komplex und zu unverstanden.

    Die Konzentrationen sämtlicher Hormone sind das Ergebnis von drei Prozessen: Ausschüttung, Verteilung und Abbau. Veränderungen jeder der drei Eingangsgrößen kann den Plasmaspiegel beeinflussen. Bei Schilddrüsenhormonen kommt noch die ebenfalls veränderliche Bindung an Plasmaproteine dazu, aber das ist nur eine Variation des Themas Verteilung.

    Auch wenn es grundsätzlich diese drei Möglichkeiten gibt, werden die Konzentrationen von Hormonen meist über den Aufbau reguliert, während der Abbau konzentrationsabhängig ist. Das ist die sparsamste Weise der Regulation. Ungesteuerte maximale Produktion und Regulation über den Abbau wäre wesentlich weniger effektiv, das scheint es aber in bestimmten Zusammenhängen auch zu geben. Was die Situation bei Schilddrüsenhormonen komplexer macht ist die Tatsache, dass bestimmte Metabolite sowohl „Quellen“ als auch „Senken“ sind: Beispielsweise ist T3 Abbauprodukt von T4, aber zugleich ein aktives Schilddrüsenhormon und Ausgangspunkt für die Synthese von 3,5-T2 und 3,3’-T2. T3 spielt also gleichzeitig drei Rollen, und ein Abbau von T4 ist daher gleichbedeutend mit dem Aufbau von T3. Dieser Prozess ist aber wiederum auch nur Teil eines viel größeren Netzwerks: Wir kennen heute mindestens 27 Varianten des Thyronin-Grundkörpers, von denen einige hormonell aktiv sind. Eine Übersicht können Sie Abbildung 4 des Artikels http://dx.doi.org/10.3389/fendo.2015.00177 entnehmen. Entscheidend ist, dass die Aktivität von Dejodinasen, dreier Enzyme, die Schilddrüsenhormone ineinander umwandeln, plastisch ist und durch etliche Faktoren (Hormone, parakrin wirksame Substanzen, Nervenimpulse und sogar Bakterientoxine) reguliert werden kann.

    Etwa 30% der hospitalisierten Patienten und mehr als 60% der kritisch Kranken weisen eine bestimmte Konstellation der Schilddrüsenhomöostase auf, die als Non-Thyroidal-Illness-Syndrom (NTIS), Euthyroid Sick Syndrome (ESS) oder Thyroid Allostasis in Critical Illness, Tumours, Uraemia and Starvation (TACITUS) bezeichnet wird. Klassische Komponenten des TACITUS-Syndroms sind ein erniedrigter T3-Spiegel (Low-T3-Syndrom), eine Störung der Plasmaproteinbindung von Schilddrüsenhormonen und eine thyreotrope Adaptation, d. h. im Verhältnis zur T4-Konzentration erniedrigte TSH-Spiegel. Umgekehrt sind die Konzentrationen der Metaboliten rT3 und 3,5-T2 erhöht. Das Low-T3-Syndrom ist erstmals 1973 bzw. 1974 unabhängig und fast gleichzeitig von Gerhard Rothenbuchner, Ulrich Loos und Mitarbeitern in Ulm und von der Arbeitsgruppe um Sidney Ingbar und Lewis E. Braverman in Boston bzw. San Francisco bei Patienten im Hungerstoffwechsel beschrieben worden. Später hat sich dann gezeigt, dass die gleiche Konstellation auch bei Patienten mit schweren Allgemeinerkrankungen (und bei Säugetieren im Winterschlaf) auftritt. Ob es sich – zumindest beim Menschen – um eine Störung des Regelkreises im Sinne einer behandlungsbedürftigen Unterfunktion, eine schädliche Anpassung (Maladaptation) oder eine nützliche Anpassungsreaktion handelt, ist seit Jahrzehnten umstritten.

    Einige Studien haben eine substitutive Therape mit T3 versucht und eine Verbesserung von sog. Surrogatmarkern (z. B. der Auswurfleistung des Herzens) gezeigt. Eine Verbesserung des Überlebens der betroffenen Patienten konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Eine sehr schöne Übersicht über diese Thematik finden Sie in einem Artikel von Simone Magagnin Wajner und Ana Luiza Maia in der Zeitschrift Frontiers in Endocrinology, den Sie von http://dx.doi.org/10.3389/fendo.2012.00008 kostenlos abrufen können.

    Wird nun T3 im Rahmen einer Infektion „intensiver verbraucht“, wie Sie schreiben? Möglich ist das schon. Gerade die Arbeiten der Gruppe um Anita Boelen in Amsterdam legen das nahe und möglicherweise ist die Umwandlung von T3 zu rT3 mit Abspaltung eines Jodatoms sogar nützlich für die Abwehr bakterieller Infektionen (s. dazu auch den Blogbeitrag vom 10. Oktober 2014, den Sie von http://blog.endokrinologie.net/schilddruesenhormone-abwehr-bakterieller-infektionen-1436/ abrufen können). Es wäre aber sicher eine zu starke Vereinfachung, das komplexe Muster des NTIS auf nur diesen Effekt reduzieren zu wollen.
    Die zirkadiane Rhythmik des T3-Spiegels scheint eher an zwei Faktoren zu liegen: Einerseits der Tagesrhythmik des TSH-Spiegels in Kombination mit der Wirkung des TSH-T3-Shunts (s. dazu den Blogbeitrag vom 10. Mai 2015, abrufbar von http://blog.endokrinologie.net/tsh-t3-shunt-1697/ ) und andererseits der verhältnismäßig kurzen Halbwertszeit des T3. Ganz ausgeschlossen ist aber nicht, dass die T3-Konzentration auch im Tagesverlauf über den Abbau modifiziert wird. Das gehört zu den vielen Dingen, die noch nicht untersucht worden sind.

    Vielleicht kommen wir einer Lösung der Rätsel, die mit dem NTIS verbunden sind, näher, wenn wir uns mit einem ganz anderen Krankheitsbild, der thyreotoxischen Krise, beschäftigen. Interessanterweise können junge, ansonsten gesunde Menschen eine schwerste Überfunktion der Schilddrüse (Hyperthyreose) entwickeln, ohne diese überhaupt zu bemerken, während alte „multimorbide“ Patienten, also Personen mit vielen relevanten Begleiterkrankungen, bereits bei einer ganz leichten, latenten, Hyperthyreose in eine lebensbedrohliche Krisensituation geraten können. Für die Entwicklung einer thyreotoxischen Krise scheint also die Reaktion des Organismus auf Schilddrüsenhormone wichtiger als deren absolute Konzentration zu sein. Was in diesem Zusammenhang an der Studie von Isozaki et al. interessant ist, ist die Tatsache, dass Patienten mit niedrigerem FT3-FT4-Quotienten (also mit herabregulierten Dejodinasen Typ 1 und/oder Typ 2) schwerer krank waren (gemessen am APACHE-II- und SAPS-Score), aber keine erhöhte Sterblichkeit hatten. Daraus könnte man mit aller gebotenen Vorsicht schließen, dass die Hypodejodierung, die man im Falle eines NTIS beobachten kann, bei schwerer Erkrankung zu einer Verbesserung der Prognose führt. Man könnte sich sogar überlegen, ob die Entwicklung eines NTIS bei schwerer Allgemeinerkrankung einen Schutzmechanismus vor einer thyreotoxischen Krise darstellt, der versagt, wenn die Schilddrüse diesen Mechanismus durch eine Überproduktion von T4 und T3 aushebelt. Aber das ist natürlich eine kühne These.

  3. Sorry, ich meine bei den Arbeiten der Boelen-Gruppe natürlich die Umwandlung von T4 zu rT3. T3 kann in einer einfachen Dejodierungsreaktion nur zu 3,5-T2 und 3,3’-T2 „abgebaut“ werden.

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