Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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„Wissenschaftspluralismus“ – Wissenschaft und Wahrheit


Dresden, 5. Juni 2021:

Am 22. Mai 2021 zitiert der Braunschweiger Pharmakologe Professor Ingo Rustenbeck in seinem DGE-Blogbeitrag über Gycowohl  (1) einen Passus von der website des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): „ Ausgehend von einem Wissenschaftspluralismus auf dem Gebiete der Arzneimitteltherapie sieht das Arzneimittelgesetz ausdrücklich die Berücksichtigung spezifischer Aspekte der Besonderen Therapieeinrichtungen vor“ (2). Eine Zulassung als Arzneimittel der Besonderen Therapierichtungen (anthroposophische, homöopathische und pflanzliche) kann also nach anderen Kriterien geschehen als sie sonst für die Zulassung von Arzneimitteln anzuwenden sind“ (1).

Ein prominentes DGE- Mitglied schreibt den Referenten (H.S.) an und betont, dass  das hinter Glycowohl stehende Problem „leider viel grösser (sei), wie schon auffällt wenn im Text des BfArM der Begriff  Wissenschaftspluralismus auftaucht, so als gebe es verschiedenen Formen der Wissenschaft“ (1). Zu dem Thema „Wissenschaft und Paramedizin“ immer wieder lesenswert sei die Eröffnungsrede „Der Wissenschaft verpflichtet“ von Professor Johannes Köbberling, Wuppertal, Präsident des Wiesbadener Internistenkongresses 1997, in der er klar Stellung gegen die sogenannte Binnenanerkennung der besonderen Therapieeinrichtungen bezieht (3). Im Folgenden sollen einige Abschnitte aus dieser lesenswerten Eröffnungsrede von Professor Köbberling wiedergegeben werden.

„…..Angesichts der verzerrten Darstellung  der wissenschaftlichen Medizin in der Öffentlichkeit ist es kaum verwunderlich, dass Angebote vermeintlich menschlicherer Alternativen breite Resonanz finden….   Ganz im Gegensatz zu den verbreiteten Vorstellungen wird eine gute, menschliche Medizin nur durch Wissenschaft in der Medizin sichergestellt. Unwissenschaftlichkeit ist dagegen der Boden der Inhumanität…..    Nach dem Wiener Philosophen Karl Popper ist Wissenschaft nicht Gewissheit, auch nicht Suche nach Gewissheit. Die wissenschaftliche Erkenntnis besteht vielmehr in der permanenten Suche nach objektiv wahren, erklärenden Theorien. Die Suche besteht darin, den Fehler, den Irrtum zu bekämpfen und alles zu tun, um Unwahrheiten zu entdecken und auszuschließen….   Wenn alles Wissen nur Vermutungswissen ist, dann gilt dies für die Medizin umso mehr…….  Bernhard Naunyn, Vorsitzender des Internistenkongresses 1902 wird gerne mit dem Satz  zitiert: „Die Medizin wird Naturwissenschaft sein oder sie wird nicht sein“; Rudolf Gross  bemerkte 1978, dass der Ausspruch immer falsch wiedergegeben werde: Es hieße nicht „Naturwissenschaft“, sondern „Wissenschaft“……    Neben der Medizin, wie sie als ernsthafte und wissenschaftlich überprüfbare Heilkunde an den Hochschulen gelehrt und überall von verantwortungsvollen Ärztinnen und Ärzten ausgeübt wird (positiv besetzt: der „Hochschulmedizin“, Anmerkung von H.S.) gibt es eine Vielzahl von………          In früheren Jahren war dafür der negativ besetzte Begriff „Kurpfuscherei“ verbreitet, heute heisst es häufig vornehmer „unkonventionelle medizinische Verfahren“. Zunehmend findet man die positiv besetzten Begriffe „Alternativmedizin“ oder ganz modern und vermeintlich aufgeklärt „Komplementärmedizin“.

Unter dem Begriff „Paramedizin“ fasst Köbberling dann solche ausserhalb der wissenschaftlichen Medizin stehenden Verfahren zusammen (Zellulartherapie, Ozontherapie, Chelattherapie, Eigenblutbehandlung Sauerstoff-Mehrschritttherapie, Bachblütentherapie usw. usw. bis hin zur Homöopathie und anthroposophischen Medizin. Im heutigen Arzneimittelgesetz in Deutschland werden die beiden letzten gemeinsam mit der Phytotherapie als „besondere Therapieeinrichtungen“ genannt und bevorzugt behandelt. Im Gegensatz zu anderen Medikamenten bedürfen die Therapeutika dieser Verfahren keiner Zulassung mit Wirksamkeitsnachweis, zur Registrierung genügt die Vorlage von einfachem, sogenannten Erkenntnismaterial nach der Art „wir haben nur Gutes gesehen“. Bei der ältesten dieser besonderen Therapieeinrichtungen, der Phytotherapie falle es freilich besonders schwer, diese der Paramedizin zuzuordnen, sei sie doch die Mutter der gesamten heutigen Pharmakotherapie. Köbberling schreibt weiter, dass man sich bezüglich der Erstattungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen auf ein Urteil berufe, dass sich der Begriff der „Allgemein anerkannten Regeln“ jeweils nur auf die einschlägigen Fachkreise zu beziehen habe, die sogenannte Binnenanerkennnung. Behandlungsmethoden der „besonderen Therapieeinrichtungen“ sind daher vom Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen dann nicht ausgeschlossen, wenn sie innerhalb der jeweiligen Therapierichtung anerkannt sind…….  „Die Vertreter der unwissenschaftlichen Medizin maßen sich selbst die exklusive Befähigung zur Beurteilung und ggf. Anerkennung ihrer Therapieverfahren an, und die Anmaßung wird vom Sozialgericht akzeptiert“…….  „Wenn wir nicht laut und deutlich dieser Sprach- und Geistesverwirrung der sogenannten Binnenanerkennung widersprechen und dieser Tendenz Einhalt gebieten, kann sich jedes medizinische Sektierertum frei entfalten, und sogar in betrügerischer Absicht erfundene neue Verfahren könnten ungehemmt reüssieren“.

Kommentar

Der Referent (H.S.) vertritt als emeritierter Direktor einer internistischen Universitätsklinik voll und ganz die “Hochschulmedizin“ (wie er immer entgegnet, wenn  man –  meist abwertend – von „Schulmedizin“ spricht). Er steht vollkommen auf Köbberlings Seite. Beim sorgfältigen Lesen seiner Eröffnungsrede kamen ihm einige Gedanken, die er hier zur Diskussion stellen möchte, ohne dass er in den Verdacht geraten möchte, der anthroposophischen Medizin oder der Homöopathie  positiv gegenüberzustehen.

Wissenschaft und Wahrheit: Karl  Popper  (s.o.) sagte: „Wissenschaft ist stets nur das Suchen nach Wahrheit. Man kommt gelegentlich in Wahrheitsnähe, erreicht sie aber nicht“. Dem kann man den Ausspruch des doppelten Nobelpreisträgers Linus Pauling hinzufügen: „Wissenschaft ist Irrtum auf den letzten Stand gebracht“. Und Stephen Hawking: „Der grösste Feind des Wissens ist nicht Unwissenheit – es ist die Illusion, wissend zu sein“.  Schon Pontius Pilatus fragte: „Was ist Wahrheit“? Das Problem der Wahrheit in der Wissenschaft behandelte auch Jürgen Barmeyer in seinem DGE-Blog vom 16. April 2020 (4).

Evidenzbasierte Medizin: Diese bringt statistische Durchschnittsresultate für bestimmte Patientengruppen. Jede Ärztin und jeder Arzt muss die Resultate natürlich kennen und als „Basis“ für sein ärztliches Verhalten nehmen. Dies gilt auch für die evidenzbasierten Leitlinien, von denen man im individuellen Fall auch abzuweichen hat.

Präzisionsmedizin: Heute rückt die personalisierte Medizin immer mehr in den Vordergrund. Und durch die Digitalisierung kann man immer mehr personenbezogene Daten, soweit man sie heute schon erfassen kann,  in den individualisierten Behandlungsplan einbauen.

Heilversuch: Auch der Referent hat nach Aufklärung und schriftlicher Zustimmung des Patienten im Sinne einer „shared decision“ im individuellen Fall Heilversuche unternommen.

Helmut Schatz

Literatur

(1) Ingo Rustenbeck: Was ist Glycowohl? Homöopathicum, Phytotherapeuticum, Antidiabeticum?, In: Glycowohl bei Diabetes – heftig beworben in den deutschen Zeitungen.
DGE-Blogbeitrag vom 22. Mai 2021

(2) https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arznei Zulassungsarten/BesondereTherapierichtungen

(3) Johannes Köbberling: Der Wissenschaft verpflichtet. Med. Klinik 1997. 92:181-189

(4) Jürgen Barmeyer: Wahrheitsfindung in der Wissenschaft.
DGE-Blogbeitrag vom 16. April 2020

Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
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4 Antworten auf „Wissenschaftspluralismus“ – Wissenschaft und Wahrheit

  1. Johannes W. Dietrich sagt:

    Vielen Dank für den wichtigen Beitrag!

    Richtig angewandt widersprechen weder die personalisierte noch die partizipatorische Medizin dem Grundsatz der evidenzbasierten Medizin. Wie eine Vereinigung der beiden Denkweisen auf wissenschaftlicher Grundlage geschehen kann, beschreibt Leroy Hood in seinen Plädoyers für eine „preventive, predictive, personalized and participatory medicine“ (P4 medicine). Dieser Ansatz beruht auf den selben wissenschaftlichen Grundlagen wie die evidenzbasierte Medizin und hat konzeptionell überhaupt nichts mit alternativmedizinischen Bestrebungen zu tun.

    Literatur

    Flores M, Glusman G, Brogaard K, Price ND, Hood L. P4 medicine: how systems medicine will transform the healthcare sector and society. Per Med. 2013;10(6):565-576. doi: 10.2217/pme.13.57. PMID: 25342952; PMCID: PMC4204402. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25342952/

  2. Ingo Rustenbeck sagt:

    Wie immer der Gesetzgeber 1976 den Begriff „Wissenschaftspluralismus“ aufgefasst hat,Naturkonstanten wie z.B. die Avogadro (= Loschmidt)-Zahl sind jenseits seiner Definitionsmacht. Wird z.B.eine 1-molare Lösung 10 hoch 30-fach verdünnt,so enthält sie keines der ursprüngl.darin gelösten Moleküle,kann also nach naturwissenschaftl. Verständnis keine Wirkung der ursprüngl.gelösten Substanz mehr transportieren. Angesichts der o.z. unsystematischen Vielfalt der als homöopathisch bezeichneten Therapeutika ist es prinzip. nicht ausgeschlossen,dass einzelne nur niedrig verdünnte Präparate auch nachweisbare Effekte auslösen.Die Annahme,daß solche Effekte dann a priori risikofrei sind ist jedoch durch nichts begründet.Die Gabe stark verdünnter hoch potenzierter Homöopathika kann zulässig sein als Geste der Zuwendung jenseits einer kurativen Zielsetzung und mag dem Kranken subjektive Erleichterung bringen.Diese empathische Gabe darf jedoch einer wirksamen Therapie nicht im Wege stehen.

  3. Helmut Schatz sagt:

    Der oben von Prof. Rustenbeck zitierte Text stammt aus einer ausführlichen Stellungnahme der DGE zusammen mit anderen wissenschaftlichen Fachgesellschaften auf Anfrage aus dem Kreis der Homöopathie.

  4. Helmut Schatz sagt:

    Zu Herrn Dietrich: Absolut richtig! In Sacketts Definition der EBM sind die „Expertise des Arztes“ (= die „ärztliche Kunst“) als Punkt 2 und die personalisierte Medizin („Einbeziehung des Patienten in die Entscheidungsfindung“) als Punkt 3 schon enthalten. Leider sahen und sehen heute immer noch Viele die EBM nur als Punkt 1 nach Sackett an (die wissenschaftlichen Studien). Siehe dazu meinen DGE-Blogbeitrag vom 2. Oktober 2020.

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