Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

Bitte beachten Sie den Haftungsausschluss für medizinische Themen.

Künstliche Intelligenz und digitalisierte Medizin vs. Natürliche Intelligenz und personalisierte Medizin


Graz und Wien, 1./2. September 2019

Der Blogbeitrag vom 20./21. August 2019 über „Künstliche Intelligenz (KI) vs. Natürliche Intelligenz“ von Klaus Ehrenberger wurde in meinem Umfeld vielfach diskutiert. Ich wurde gebeten, einige Punkte aus dem Beitrag, die nicht für alle sofort verständlich waren, näher erläutern zu lassen und darf hier zunächst die Antwort von Klaus Ehrenberger  wiedergeben, dann einem Kommentar von mir.

Antwort:

1. Energieverbrauch der Informationsverarbeitung

– Das Gehirn ist ein Energiefresser. Circa 2% der Körpermasse verbrauchen fast 20% der aufgewendeten Körperenergie.
– Im Vergleich dazu ist der Stromverbrauch für Betrieb und Kühlung aller elektronischen Rechner viel größer. Er ist sogar so riesig, dass er Einzug in die aktuelle Klima-Debatte gehalten hat.

2. Informationsverarbeitung des Gehirns

1965 publizierte Nelson Kiang (1) die überraschende Tatsache, dass identische akustische Reize in den zugehörigen Nervenfasern jeweils leicht unterschiedliche Signalfolgen auslösen. Vor 25 Jahren hat unser kleines neurophysiologisches Arbeitsteam nach eingehenden eigenen Untersuchungen versucht, die Sinnhaftigkeit dieser eigenartigen Kodierungsstrategie modellhaft darzustellen (2). (Im Supermarkt etwa ist der auf die Artikel aufgeklebte Barcode die „Kodierungsstrategie“). Immerhin wurde unser Modell bis heute nicht widerlegt. Ein paar Jahre später konnten wir darauf hinweisen, dass das Phänomen der stochastischen Resonanz (= Signalverstärkung durch “inneres Rauschen“), erstmals beschrieben bei Krebsen, auch bei Warmblütern zur Anwendung kommt: die Erregung des zentralnervösen Rauschens verstärkt schwache Signale zu überschwelligen Erregungen.

3. Digital – analoge Signal- und damit Informationsübersetzer sind Bildschirme, Lautsprecher, I-phones, 3D Brillen, virtuelle Laserprojektionen und was es sonst noch alles gibt.

4. EDV-gesteuerte künstliche Intelligenz ist im Alltag sehr nützlich und erledigt zahlreiche repetitive Aufgaben. Künstliche Intelligenz ist ein wertvolles Hilfsmittel für den Menschen, aber kein Ersatz für das menschliche Gehirn. Die Künstliche Intelligenz ist ein Arbeitsinstrument und keine reale Welt. Wenn jemand die digitale Welt als reale Welt ansieht, so ist das ein Irrtum, der gefährlich werden kann. Zu glauben, dass die digitale die analoge Welt unnötig machen wird, ist nicht zutreffend. Niemand braucht Angst zu haben, dass der Mensch mit seiner (natürlichen, analogen) Intelligenz in Zukunft unnötig sein wird.

5. Analoge Computer

Die zentralnervöse Informationsverarbeitung ist noch viel zu wenig verstanden, um elektronisch erfolgreich simuliert werden zu können.

Kommentar

Die „Digitalisierte Medizin“ und die „Künstliche Intelligenz“ sind seit Jahren auf unseren  Kongressen ein wichtiges Thema, so auch auf dem diesjährigen Internistenkongress  in Wiesbaden 2019. Gerd Hasenfuß, der Tagungspräsident des Deutschen Internistenkongresses 2016 schrieb in seiner Kongresseinladung (4): „Apple, Google und die sozialen Netzwerke haben den Gesundheitsmarkt entdeckt und werden weitreichenden Einfluss auf die Medizin nehmen. Wir Ärzte müssen die digitale Medizin mitgestalten, um das große Potenzial dieser Entwicklung aus fachlicher Sicht für den Patienten nutzbar zu machen und Schaden durch fehlendes medizinisches Sachwissen zu verhindern“.

Im Buch „App vom Arzt. Bessere Medizin durch digitale Medizin“ stellen Jens Spahn, Markus Müschenich und Jörg F. Debatin, die digitale Medizin aus der Sicht des Gesundheitsmarktes dar (5). Sie schlagen vor, dass ein Patient statt einen, wie sie es nennen, „offline Arzt“ in ihrer Region zu konsultieren,  sich besser einen hervorragenden Spezialisten für diese Erkrankung wenden sollten, der online ist,  etwa auch in Australien. Und „Dr. Watson“, der Großcomputer von IBM, würde auch bei Diagnose und Therapie helfen. Für die so wichtige Empathie freilich sei der Mensch besser geeignet als ein Computer. Da wird jeder Arzt zustimmen. Abschließend in ihrem Buch fragen sie aber, „ob dieser Mensch ein Arzt sein muss. Wer weiss, was Krankenschwestern,  Krankenpfleger,  Seelsorger heute bereits leisten, wird diesen sicherlich zutrauen, auch hier die Wünsche eines Patienten zu erfüllen“. Der Referent, der dieses Buch zu referieren bekam, beendete seine Rezension mit dem Satz: „Bleiben dann nur noch „Dr. Watson“, virtuelle Ärzte und für die Empathie Assistenzpersonen und Seelsorger ? Schöne Neue Welt !“ (6).

Der Großcomputer „Watson“ von IBM, der sich zum Beispiel in der Quizsendung  „Jeopardy!“  zwei menschlichen Gegnern als hoch überlegen erwiesen hatte, wird aber in letzter Zeit wegen falscher Therapievorschläge heftig kritisiert. So sei im Jahre 2018 ein onkologischer Patient unter einer von Watson vorgeschlagenen Therapie zu Tode gekommen. Bei der Behandlung von Tumorerkrankungen sei er bisher keine echte Hilfe (7). Im medizinischen online-Dienst „Stat“ sei im Juli 2018 zu lesen gewesen, dass Watson ungesunde und falsche Therapieempfehlungen für Krebspatienten gegeben habe. Nach anfänglich großen Erwartungen ist die Enttäuschung im medizinischen Bereich umso größer (8). Die KI-Software biete keinen Mehrwert gegenüber Diagnosen von Krebsspezialisten. Viele onkologischen Programme an großen Institutionen wurden inzwischen eingestellt. Auch in der Klinikverwaltung mit Digitalisierung von Patientenakten und Arztbriefen wurde die Zusammenarbeit mit Watson vom Universitätsklinikum Gießen und Marburg wieder beendet, da sich das System als auch im Betrieb sehr teuer und „deutlich weniger intelligent als erhofft“ erwiesen habe (7). Hier erinnert sich der Referent an seine Assistentenzeit in den 1960er Jahren an der II. Medizinischen Universitätsklinik Wien, als der Klinikvorstand Professor Karl Fellinger seine Klinik – vor einem halben Jahrhundert! –  „digitalisieren“ wollte, und einen Großrechner, ich meine es war ein IBM 604 anschaffte, für den ein gekühltes kleines Haus gebaut wurde. Bei den Visiten hatten die Schwestern die Therapieangaben auf Lochkarten zu übertragen. Nach Auswertung über große Datentrommeln kamen die Anweisungen für die diagnostischen Maßnahmen und die Medikationspläne ausgedruckt zurück auf die Stationen. Dieses Verfahren wurde bald, nach etwa einem halben Jahr wieder eingestellt, da es mehr Arbeit machte als das herkömmliche Verfahren  und keineswegs fehlerfrei war.

Eine gewisse Analogie einer „KI-Medizin“ mag man in den selbstfahrenden Autos sehen, obwohl hier die Probleme vergleichweise wohl einfacher sind als auf dem weiten, oft sehr komplexen Feld der Medizin, insbesondere der personalisierten, der „precision medicine“. Gerade in der Präzisionsmedizin war „Dr. Watson“ trotz Versuchen kaum weitergekommen.

Es ist aber zu hoffen, dass die Entwicklung in der Digitalisierten Medizin fortschreitet und immer bessere Ergebnisse liefert. Wir Ärzte werden uns in heute kaum vorstellbaren Maße mit ihr auseinanderzusetzen haben. Der Mensch mit seiner natürlichen, analogen  Intelligenz aber wird gewiß nicht durch die künstliche, digitale Intelligenz völlig zu ersetzen sein.

Klaus Ehrenberger, Wien, und Helmut Schatz, Bochum

Literatur

1.) Nelson Yuan-Sheng Kiang (1965): Discharge Patterns of Single Fibers in the Cat´s Auditory Nerve.
M.I.T. Research Monograph No. 35

2.) Svozil K., Felix D., Ehrenberger K. (1994) Multiple-Channel Fractal Information Coding of Mammalian Nerve Signals.
Biochem Biophys Res Comm 199:911-915

3.) Ehrenberger K., Felix D., Svozil K. (1999) Stochastic Resonance in Cochlear Signal Transduction.
Acta Otolaryngol (Stockh) 119:166-170

4.) Gerd Hasenfuß: Einladung des Vorsitzenden der DGIM 2016.
Programmheft des 122. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V., 9.-12. April 2016, Seite 8-9

5.) Jens Spahn, Markus Müschenich, Jörg F. Debagtin: App vom Arzt. Bessere Gesundheit durch digitale Medizin.
Freiburg im Breisgau, Verlag Herder, 2016.

6.) Helmut Schatz: Die digitalisierte Medizin im Buch „App vom Arzt“ – Rezension eines Klinikers und niedergelassenen Arztes.
DGE-Blogbeitrag vom 4. Oktober 2016

7.) https://www.heise.de: Kampf gegen Krebs: Dr. Watson enttäuscht Erwartungen. 15.8.2018

8.) Melanie Erhardt: Ende der Märchenstunde. Wie Dr. Watson seine Zauberkraft verlor.
Medizin + elektronik, 8.8.2018

Publiziert am von Prof. Helmut Schatz
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Permalink.

2 Antworten auf Künstliche Intelligenz und digitalisierte Medizin vs. Natürliche Intelligenz und personalisierte Medizin

  1. Dr. techn. Helmut Kiendl sagt:

    Durch mein Mathematikstudium sowie die eigenständige Entwicklung eines komplexen physikalischen Rechenprogramms vor etwa 50 Jahren gewann ich besonderen Einblick in die Entwicklung der Rechenmittel. Bei diesem Rechenprogramm wurde ein nahezu haushoher Computer eingesetzt, während heute durch die Verbesserung von Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität diese Aufgabe ein Smartphone lösen kann.
    So kam es, daß die besten Schachspieler der Welt im Vergleichskampf dem Computer zunächst keine Chance gaben. Doch bereits nach wenigen Jahren intensiver Programmentwicklung hatten die besten Spieler das Nachsehen.
    So erwarte ich auch im medizinischen und psychologischen Bereich eine deutliche Verbesserung bei der Behandlung von Patienten durch den Einsatz moderner Rechengeräte. Im Gegensatz zu dem Beispiel mit dem Schachspiel wird durch die hohe Anzahl an beeinflussenden Faktoren in qualitativer und quantitativer Hinsicht der Computer den Menschen nicht „besiegen“ können.

  2. Helmut Schatz sagt:

    Aus: „VIELES IST NOCH WUNSCHDENKEN“, einem Artikel im Deutschen Ärzteblatt vom 2. September 2019, S. 1534 ff.: „Wenn man die gegenwärtige Diskussion um Big Data betrachtet, so stellt man fest, dass Big Data einen Hype darstellt, oder zumindest viele Elemente eines Hypes aufweist. …….Man sollte sich nicht täuschen lassen. Wirklich große Datensätze, die Tausende von Patienten einschließen und gleichzeitig gute Datenqualität aufweisen, wird es auch in Zukunft eher selten geben. Weil aber mit der Datenqualität die Aussagekraft der Analysen steht und fällt, ist zu erwarten, dass – anders als dies teilweise propagiert wird – auch beim Einsatz von Big Data …die Bäume nicht in den Himmel wachsen“.
    Diese Aussage deckt sich mit der Meinung des Referenten.

Schreiben Sie einen Kommentar zu Helmut Schatz

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

 Verbleibende Zeichenanzahl

Mit dem Absenden des Formulars erklären Sie sich mit der Verarbeitung der übermittelten Daten einverstanden. Details hierzu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.