Wien, 22. Oktober 2014
Zeugen ältester Felskunst finden sich in Südwest-Europa und in Indonesien. Sie werden auf ein Alter von ca. 40.000 Jahren geschätzt (1). Bereits diese paläolithische Kunst repräsentiert sich als das, was Kunst auch heute ist: eine symbolische Mitteilungsform mit hohem Emotionswert. Dies gilt nicht nur für bildliche Darstellungen, sondern auch für die zeitgebundenen Kunstformen der Musik. Sprache, Erzählungen, Zahlen und Literatur sind dagegen eher intellektuelle Kommunikationsformen, beruhend auf einer Gruppendynamik, die ausgerichtet ist auf Lebensnotwendigkeiten des Homo sapiens. Um als solche wahrgenommen zu werden, benötigen alle Mitteilungsformen eine allgemeingültige Struktur: eine „Grammatik“.
Die Grammatik der Kunst ist die Ästhetik, deren Grundregeln im Laufe der Evolution mehrmals manifest werden. Die Schönheit der Blumen, die extravaganten Farben von Insekten, Fischen und Vögeln, der vielfältige Vogelgesang folgen ästhetischen Gesetzen und dienen im Pflanzen- und Tierreich vorzugsweise der sexuellen Selektion (2). Die humane, kulturelle Evolution hat die Schönheit vom Zwang befreit, ausschließlich der biologischen Reproduktion zu dienen: Universell gültige Gesetze der Ästhetik strukturieren zunehmend abstrakte Ideen (3). Bereits Platon und Aristoteles wiesen vor 2500 Jahren darauf hin, dass Kunst Dinge in Erscheinung bringt, die uns alle umtreiben. Dabei sei nicht die genaue Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern deren Glaubwürdigkeit entscheidend (4).
Kunst verführt und diszipliniert: Kunst als Therapie
So zwingt Musik zu individueller und kollektiver Einkehr (Religionen, Landeshymnen), kollektiven rhythmischen Bewegungen des Tanzes, der synchronen Bewegungen ganzer Orchester und marschierender Massen. Bildliche Darstellungen und Symbole haben eine enorm strukturierende, d.h. kollektivierende Wirkung auf religiöse, politische, sportliche, auch wissenschaftlich tätige Gruppierungen.
Auf der disziplinierenden Wirkung von Kunst bauen die „creative therapies“ auf, die bereits einen festen Platz in der psychiatrischen und psychosomatischen Medizin beanspruchen. Die vielfältigen Therapieansätze spiegeln die Vielfalt der Kunstströmungen und Kunstausübungen wider, berichten von teilweise überraschenden Erfolgen, haben sich aber bis heute den Standardisierungstendenzen der klinischen Medizin weitgehend entzogen. Die „American Music Therapy Association“ und die „American Art Therapy Association“ zeigen in ihren Handbüchern (Rontledge-Verlag 1995-2014) gangbare Wege auf, um Kunsttherapien in den klinischen Alltag zu integrieren. Meist handelt es sich um die Erlernung einer Selbstdisziplinierung durch aktive künstlerische Tätigkeiten. Musik geht darüber hinaus und sollte bei passender Auswahl des Angebotes passiven Zuhörern helfen, gestörte Hirn- und Körperfunktionen wieder einem alltagstauglichen Gleichgewicht zuzuführen.
Ein gerüttelt Maß an Disziplin erleichtert das Leben und wird als notwendig, sogar als genussvoll empfunden. Disziplin ist ein Leben nach Regeln. Kunst stellt via Ästhetik Regeln zur Verfügung, die das Leben von Chaos und Langeweile befreien (Svozil). Es lebe die Kunst!
Univ.-Prof. (emer.) Dr. med. Klaus Ehrenberger
Direktor i.R. der Hals-, Nasen und Ohrenklinik der Universität Wien
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Literatur:
1.) Aubert, M. et al. (2014) Pleistocene cave art from Sulawesi, Indonesia.
Nature 514,223-227.
2.) Grammer, K. et al. (2003) Darwinian aesthetics: sexual selection and the biology of beauty.
Biological Reviews 78/3: 385-407.
3.) Ehrenberger, K. The brain makes the music.
European Voices II, 17-21. Böhlau 2009.
4.) Diell, E. (2008) Kunst bei Platon und Aristoteles
www.idsteiner-mittwochsgesellschaft.de/
5.) Svozil, K. (2008) Aesthetic complexity
www.arXiv:physics/050588v2
Während des 50. EASD-Kongresses in Wien im September 2014 traf ich mich mit meinem Grazer Schulfreund Klaus Ehrenberger, der nach Tätigkeit am Hirnforschungsinstitut der Universität Zürich lange Jahre die Univ.-HNO-Klinik in Wien leitete. Beim Heurigenbesuch sprachen wir darüber, dass nach Platon und Aristoteles alle schönen Künste einschließlich der Musik im Grunde die Natur und deren komplexe, mathematisch fassbaren, nichtlinearen Gesetze der Ästhetik („Biology of Beauty“) imitieren. Ich bat Prof. Ehrenberger, den Inhalt unseres Gesprächs für einen Beitrag in unserem DGE-Blog als „Blick über den Tellerrand“ zusammenzufassen.
In Gesprächen mit Künstlern und Kunstkritikern über die Vorstellung von Platon und Aristoteles, daß Kunst „nur“ widerspiegle, was in der -auch der menschlichen- Natur schon vorgegeben sei, stieß diese Ansicht auf heftigsten Wiederstand. Sie waren von ihrer individuellen, einmaligen schöpferischen Ìdee zutiefst überzeugt.
Als Stv, Vorsitzernde des Diakonievereins in Kassel und ausgebildete Musikerin engagiere ich mich mehrere Male m Jahr bei einer Gruppe von Demenzkranken. Wir musizieren vor dieser Gruppe und merken, daß alle vorherige Unruhe
verschwindet. Die Patienten öffnen sich der Musik, Ihre Ausstrahlung verändert sich im Positiven.
Musik ist nicht nur ein Bestandteil menschlicher Kulturen, sondern auch tief in uns biologisch verankert, wie die Kognitionsbiologin Marisa Hoeschele von der Universität Wien in Philosophical Transactions of the Royal Society B, 370(1664), DOI: 10.1098/rstb.2014.0094 ausführt. Dies begründet sie auf Basis von verhaltensbiologischen Studien. Forschungen an Vögeln konnten aufzeigen, welche Aspekte der menschlichen Musik rein kulturelle Phänomene sind und welche in unserer Biologie wurzeln. Es gibt Parallelen in der Musik aller, auch sehr verschiedener Kulturen. Dies sind etwa die Notenintervalle, die als angenehm empfunden werden. Somit sind diese wohl ein biologisches Phänomen der menschlichen Spezies und nicht kulturell bedingt.. Auch bei Vögeln gibt es Ähnlichkeiten in den Lauten und der Wahrnehmung zwischen verschiedenen Arten. Bei den „Singvögeln“ müssen aber die Jungvögel die Gesänge erst erlernen, einige von ihnen wie die Papageien können dies sogar noch im Erwachsenenalter.
Man mag in diesen Forschungsergebnissen in gewisser Weise eine Bestätigung der Ansichten von Platon und Aristoteles sehen.
Platon und Aristoteles werden in ihrer Ansicht durch Picasso – oder war es Braque? – unterstützt: Der Maler sagte, „Ich male nicht, ich wische nur die Natrur frei!“
Alfred Brendel zitiert in Bezug auf den „schlafwandelnd komponierenden Schubert“ Immanuel Kant, der sagte, daß „der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht wisse, wie sich in ihm die Ideen dazu finden, und es nicht in seiner Gewalt habe, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken“. Hat das Genie Schubert etwa „biologisch Verankertes freigewischt“?
Im Deutschen Ärzteblatt vom 13. März 2015, Jg. 112, Heft 11 findet sich auf Seite A 468 ein Artikel zur Musiktherapie: „Die heilsame Kraft des Singens“. Der Verein „Singende Krankenhäuser e.V.“ setzt auf das gemeinsame Singen in Gesundheitseinrichtungen zur Unterstützung von Heilung und Wohlbefinden. Das aktive Singen führe zu einer vermehrten Ausschüttung von Oxytocin, einer erhöhten Produktion von Immunglobulin A und einer Verminderung der Konzentration des Streßhormons Cortisol.