Bochum, 12. November 2016:
Rystard Legutko, Professor für Philosophie mit den Schwerpunkten Antike Philosophie und Politische Theorie an der Jagiellonen-Universität Krakau und Mitglied des Europaparlaments in Straßburg analysiert in seinem Buch „ The Demon of Democracy: Totalitarian Temptations in Free Societies“ (1) die heutige „liberale Demokratie“ und den Kommunismus (freilich nicht in der sowjetischen Prägung). Er kommt zu dem für viele, wenn auch nicht alle überraschenden Schluss, dass beide Gesellschaftsformen im Grunde sehr ähnlich seien. Die heutige „Liberale Demokratie“ – im Unterschied zu früheren Demokratien bis ins 20. Jahrhundert – teile eine Anzahl alarmierender Züge mit dem Kommunismus. Beide Gesellschaftsformen seien Utopien und schauten in Richtung eines Endes der Geschichte, wenn sich schliesslich alle Systeme in permanentem status quo befinden sollten. Beide meinen und fordern, dass sich die Geschichte unausweichlich in diese Richtung bewegen würde und müsse. Und beide verlangen, dass alle sozialen Institutionen wie Familie, Kirchen und private Vereine ihren Regeln folgen müssten. Kurz gesagt, wie vorher der Marxismus wird die heutige Ausprägung der „liberalen Demokratie“ eine allumfassende Ideologie, die hinter dem Schleier einer Toleranz nur wenig oder gar keine gegenteilige Meinung oder Verhaltensweise duldet.
Auf Seite 82 seine Buches schreibt Legutko: “Liberal democracy has created its own orthodoxy which causes it to become …….. a mechanism for the selection of people, organizations, and ideas in line with the orthodoxy”. Beim Lesen dieser Passage fühlte sich der Referent an die Überlegungen und Praktiken in unseren Vereinen erinnert, wenn es etwa um die Wahl von Funktionsträgern ging. Er hat selbst mehrere gemeinnützige Vereine gegründet und über einige Jahrzehnte in den Vorständen nationaler und internationaler Gesellschaften mitgearbeitet. Dabei fiel ihm in den letzten Jahren auf, dass manche Mitglieder stets ein formal streng „demokratisches“ Vorgehen forderten, anstelle eines pragmatischen Verhaltens. So sollte immer ein Gegenkandidat aufgestellt werden, der sich freilich, wenn er bei den Abstimmungen nicht die Mehrheit bekam, häufig vom aktiven Vereinsleben zurückzog. Bei vielen blieben dann doch Verstimmungen, bei manchen auch Narben zurück, wie der Referent beobachten musste und wie er es auch aus Gesprächen mit solchen „Zählkandidaten“ erfuhr. Er befürwortete daher stets ein auf die aktuelle Personalsituation abgestimmtes pragmatisches Verhalten anstelle des Durchziehens eines starren Prinzips.
Das Buch von Professor Legutko mit seinen Kapiteln Geschichte, Utopien, Politik, Ideologien und Religion ist faszinierend und eröffnet neue, ungewohnte Perspektiven. Es ist leicht lesbar geschrieben. Man muss nicht mit allen seinen Überlegungen und Gedankengängen übereinstimmen, lesenswert ist es aber allemal!
Helmut Schatz
Literatur
(1) Ryszard Legutko: The Demon in Democracy. Totalitarian Temptations in Free Societies. New York, London. Encounter Books 2016
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Wie sagte Winston Churchill?
„Many forms of Government have been tried, and will be tried in this world of sin and woe. No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed it has been said that democracy is the worst form of Government except for all those other forms that have been tried from time to time.…“
Wie nach monatelangen Diskussionen schliesslich Frank-Walter Steinmeier zum Kandidaten der grossen Koalition für das Bundespräsidentenamt benannt wurde zeigt, dass dass man sich auch bei der Auswahl für das höchste demokratische Amt in der Bundesrepublik Deutschland pragmatisch verhalten hat.
Die vielen von der CDU ins Auge gefassten Kandidaten haben alle abgesagt. Bei einigen mag auch die Überlegung mitgespielt haben, gegen einen SPD-Kandidaten Steinmeier in einem zweiten oder dritten Wahlgang schliesslich doch zu unterliegen und dann „beschädigt“ worden zu sein . So kam es zu dem von Dr. Otto angesprochenen pragmatischen Kompromiss anstelle von „demokratischen“ (Kampf-) Abstimmungen. Haben sich diese potenziellen Kandidaten mit ihrer Absage nun „undemokratisch“ verhalten? Doch wohl nein!
Auch im Vereinsleben sollte man sich pragmatisch verhalten.
„Ich bin diktatorisch, nur mit stark demokratischem Einschlag.“ (Konrad Adenauer)
„Wahlen allein machen noch keine Demokratie.“ (Barack Obama)
Die Wahrheit liegt wohl für viele wichtige Entscheidungen zwischen Demokratie und Pragmatismus. Gerade wenn Funktionsträger mit Engagement in Vereinen gesucht werden, die sich bereit erklären, überhaupt eine wichtige Funktion mit Enthusiasmus zu bekleiden, sind „demokratische“ Wahlen vielleicht nicht immer zielführend für die Sache. Dies besonders dann, wenn sich Nicht-Gewählte als „nicht ernst genommen“, „beschädigt“ oder „verbrannt“ empfinden. Schlimmer noch, wenn sie sich für die Zukunft ganz abwenden, da sie ein Mißverhältnis zwischen „Wichtigkeit der Sache“ und „Demokratischem Zugang“ empfinden.
Die 1979 konzipierte „Prospect Theory“ oder „Neue Erwartungstheorie“ des späteren Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, bewies entgegen den Lehrmeinungen der Wirtschaftswissenschaft, dass der Mensch Verluste stärker verabscheut, als er Gewinne liebt. Wenn wir eine Entscheidung treffen oder ein Problem lösen sollen, dann sind wir keine rein rationalen, nüchternen Nutzen-Maximierer.
Übertragen auf den Bereich der Ehrenämter: es besteht auch hier eine innere Balance, welche es zu berücksichtigen gilt: In einer demokratischen Wahl um ein Ehrenamt potentiell zu verlieren, ist relevanter, als die zu erwartende Befriedigung, die es bedeuten könnte, dieses Ehrenamt zu gewinnen. Dies mag erklären, warum es so schwierig sein kann, Gegenkandidaten zu gewinnen.
Sehr interessante Diskussion.
Allerdings oute ich mich hier als „sturer“ Demokrat und glaube einfach, dass es uns nur gelingen muss, die „Niederlage“ bei einer Wahl nicht als persönlichen Angriff zu empfinden, sondern als eine „Normalität“, die eben mind. die Hälfte der Kandidaten trifft.
In diesem Sinne würde ich mich weiterhin über mehrere Kandidaten bei jeder DGE-Wahl freuen…
Beste Grüße v.a. an alle selbstbewussten „Verlierer“
Martin Fassnacht
Lieber Martin, laut unsere Wahlordnumg können aus der Mitgliederschaft ohnedies auch Kandidaten nominiert werden, wenn, wie ich meine, 10 Mitglieder dies wünschen. Insofern ist ohnedies eine Pluralität gegeben.
Herrn Fassnachts Bemerkungen bestätigen Legutkos Befürchtungen, dass unsere Vereine der totalitären Versuchung erliegen könnten, wenn die Elite der Vorstandsmitglieder.meint, die .Demokratie allein zu besitzen und sie den Vereinsmitgliedern vorenthalten möchte. Diese sollten/können ja auch Kandidaten benennen, laut Statuten sogar theoretisch über 150! Helmut Schatz spricht dies in seinem Kommentar auch an. Demokraten.sitzen doch nicht.nur.im.Vorstand.
Universitäre Berufungsverfahren kennen den Besetzungsvorschlag “ Primo et unico loco“ für besonders
geeignete, bewährte Kandidaten. Die öffentliche Körperschaft Universität sieht in dieser Form der
Wertschätzung keinen Demokratieverstoß.
Warum sollte man tüchtigen, ehrenamtlichen Präsidenten diese Form der Wertschätzung vorenthalten?