Bochum, zum Jahresbeginn am 1. Januar 2022 ein medizinhistorischer Rückblick
Der Mechanismus, der die Tätigkeit der Hypophyse und der Schilddrüse miteinander verbindet, zählt heute zu den klassischen endokrinen Regelkreisen. Seine Kenntnis ist Voraussetzung für jegliche moderne Diagnostik der Schilddrüsenfunktion und auch vielfach für die Therapieplanung. Im abgelaufenen Jahr jährte sich seine Erstbeschreibung zum 85. Mal [Fellinger 1936].
Als der Wiener Internist Karl Fellinger ( *1904 in Linz, +2000 in Wien) mit den Forschungen seiner Habilitationsarbeit begann, war bereits bekannt, dass der Hypophysenvorderlappen ein Hormon produziert, das die Tätigkeit der Schilddrüse anregt [Aron 1929, Loeb und Bassett 1929, Crew 1930]. Dieses Hormon sollte den Namen Thyreotropin oder thyreoideastimulierendes Hormon (TSH) erhalten. Unbekannt war jedoch, wie die TSH-Produktion gesteuert wird, insbesondere, ob es eine negative Rückkoppelung von Schilddrüsenhormonen auf die TSH-Sekretion gibt.
Eine solcher Feedback-Mechanismus war kurz zuvor von Walter Hohlweg und Max Dohrn für die Beziehung zwischen Hypophyse und Keimdrüsen beschrieben worden [Hohlweg und Dohrn 1932]. Im gleichen Jahr publizierte Hohlweg auch, zusammen mit Karl Junkmann, über die humoralen Interaktionen des Hypopthalamus mit der Hypophyse.
Mit der heute verfügbaren Methodik wäre die Frage nach den Wechselwirkungen von Schilddrüse und Hypophyse Ypophyse sehr einfach zu beantworten gewesen. Zur damaligen Zeit, als insbesondere noch keine Labor-Assays zur Bestimmung der TSH-Konzentration verfügbar waren, warf sie jedoch enorme Schwierigkeiten auf. Zur Überprüfung der Hypothese entwickelte Fellinger einen Bio-Assay, in dem er die Konzentration des Thyreotropins an seiner Wirkung auf die Schilddrüse beurteilte. Er verwendete dazu tierexperimentell einen Ansatz mit Meerschweinchen, denen er Extrakte aus dem Blut von Menschen mit Euthyreose, Hypothyreose und Hyperthyreose sowie von Hunden vor und nach Thyreoidektomie injizierte. In der anschließenden histologischen Aufarbeitung der Meerschweinchenschilddrüsen ließ sich an der Struktur der Follikelepithelien feststellen, ob und wie stark die Schilddrüse stimuliert wurde. Die schwächste Stimulation fand er im Meerschweinchen gerade nachdem sie mit Seren von Menschen mit der stärksten Schilddrüsenüberfunktion behandelt wurden. Am ausgeprägtesten war sie dagegen mit dem Extrakt von Menschen mit Hypothyreose und von thyreoidektomierten Hunden.
Dies bewies allerdings noch keine Rückkoppelung über die Hypophyse, da es sich auch um einen direkten Effekt der Schilddrüsenhormone hätte handeln können. Fellinger entwickelte daher ein Verfahren, um Schilddrüsenhormone aus dem humanen Serum mit Aceton auszufällen und fand die gleichen Ergebnisse. Genau umgekehrte Beobachtungen machte er bei sekundären Hyperthyreosen auf dem Boden von (offensichtlich TSH-produzierenden) Hypophysenadenomen, wo die Stimulation nach Injektion des Serums von Erkrankten am stärksten war.
Fellinger hatte damit bewiesen, dass es eine negative Rückkoppelung von Schilddrüsenhormonen zur Hypophyse gibt oder, wie er selbst schrieb: „Eine Erklärung für dieses Verhalten des thyreotropen Hormons im Blute wäre am besten in der Annahme zu finden, daß eine starke Rückwirkung der Schilddrüse auf die Hypophyse stattfindet. Eine Erhöhung des Spiegels des Thyreoideahormones im Blute scheint die Produktion oder Ausschwemmung des thyreotropen Hormons herabzusetzen und umgekehrt.“
Kommentar
Die Entdeckung des Hypophysen-Schilddrüsen-Regelkreises wird heute den US-amerikanischen Ärzten Edwin B. Astwood und Roy G. Hoskins zugeschrieben, die um 1940 ähnliche Beobachtungen an Kaninchen und auch am Menschen nach der Einführung der ersten Thyreostatika machten. Tatsächlich reicht die Aufklärung des Mechanismus der Schilddrüsenhomöostase aber einige Jahre früher zurück.
Dass Fellingers Primat so wenig bekannt ist, mag auch an seiner politischen Geschichte liegen. Als gläubiger Katholik stand er dem zunehmenden Einfluss des Nationalsozialismus im Österreich der 1930er Jahre kritisch gegenüber. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im Jahre 1938 geriet er unter Beobachtung, verlor die Lehrbefugnis, musste bald seinen Posten als Abteilungsleiter verlassen und wurde zum Militärdienst eingezogen. Darunter musste auch die Verbreitung seiner Forschungsergebnisse leiden. Glücklicherweise überlebte er die schwierige Zeit und den zweiten Weltkrieg und wurde in der Nachkriegszeit zunächst als Leiter der medizinischen Abteilung der Allgemeinen Poliklinik Wien und 1946 als Ordinarius an die II. Medizinische Universitätsklinik Wien bestellt, der er bis 1975 vorstand [Fellinger 1984]. Er starb am 8. November 2000 hochgeehrt im Alter von 96 Jahren als „Doyen“ der klinischen Medizin Österreichs.
PD Dr. med. Johannes W. Dietrich
Sektion Diabetologie, Endokrinologie und Stoffwechsel
und Diabeteszentrum Bochum/Hattingen
Medizinische Klinik I, St. Joseph-Hospital Bochum
Gudrunstraße 56, D-44791 Bochum
Johannes.dietrich@ruhr-uni-bochum.de
Literatur
1. Fellinger, K. (1936). Klinische und experimentelle Untersuchungen über das Verhalten und die Bedeutung des thyreotropen Hormons im Blute.
Wiener Archiv für Innere Medizin 29: 375–400.
2. Aron, M. (1929). Action de la préhypophyse sur la thyroïde chez le cobaye.
Comptes rendus des séances de la Société de biologie 102(Nov. 1929): 682–4.
3. Loeb, L. und Bassett R. B. (1929). Effect of Hormones of Anterior Pituitary on Thyroid Gland in the Guinea-Pig.
Proceedings of the Society for Experimental Biology and Medicine 26(9): 860–2.
https://doi.org/10.3181/00379727-26-4559
4. Crew, F. A. E. und B. P. Wiesner (1930). On the existence of a fourth hormone, thyreotropic in nature, of the anterior pituitary.
Brit. Med. J. 1(April 26, 1930): 777-8.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20775412/
5. Hohlweg, W. und Dohrn, M. (1932). Über die Beziehungen zwischen Hypophysenvorderlappen und Keimdrüsen.
Klinische Wochenschrift 11(6): 233–5.
https://doi.org/10.1007/BF01755061
6. Astwood, E. B. (1955) Mechanism of action of antithyroid compounds.
Brookhaven Symposia in Biology 7: 61–73.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/14351812/
7. Hoskins, R. (1949) The thyroid-pituitary apparatus as a servo (feed-back) mechanism.
The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism 9; 1429–31.
https://doi.org/10.1210/jcem-9-12-1429
8. Fellinger, K. (1984) Arzt zwischen den Zeiten.
Paul Zsolnay Verlag, Wien, Hamburg.
Karl Fellinger gehörte der Katholischen Akademischen Vereinigung Norica Wien an und amtierte auch als Vorortspräsident des Österreichischen Cartellverbandes. Wegen seiner den Nationalsozialismus ablehnenden Haltung wurde er seiner Ämter enthoben und seine epochale Aufklärung des Schilddrüsenregelkreises wurde kaum bekannt. An Fellinger sieht man schön, daß man ein exzellenter Kliniker und zugleich ein genialer experimenteller Forscher sein kann.
Obwohl ich wahrscheinlich einer der letzten Ärzte bin, der unter Fellinger gedient (1973 – 75) hat, war mir seine Pionierarbeit aus dem Jahr 1936 nicht bekannt. Noch dazu als Spezialist für Schilddrüsenerkrankungen! Fellinger – schon in Pension – hat mich zuletzt inSachen Schilddrüse (Amiodaron Wirkung auf die Schilddrüse) um Rat gefragt
Umsomehr kränkt es mich mich, dass ich von seiner Pionierarbeit auf „meinem“ Gebiet nicht wusste. Das, obwohl ich medizinhistorisch interessiert bin (1)! Leider war es mir nichtmöglich die Originalarbeit aus dem Jahre 1936 (Wiener Archiv für Innere Medizin) zu erhalten. Meine Recherche hat leider nur ein Inhaltsverzeichnis der Ausgabe mit Anführung seines Artikels ergeben. Die von Ihnen ausführlich zitierte Arbeit aber leider nicht.
Können Sie mir dazu verhelfen ?
1: WEISSEL M: Highlights in Thyroidology: A Historical Vignette. Wien Klin
Wochenschr 2014: 126: 311 – 319. DOI 10.1007/s00508-014-0515-7
Lieber Herr Weissel, als Fellinger-Schüler 1964-1969 wusste ich von der Habilitationsleistung mit der aufwendigen tierexperimentellen Methodik meines damaligen Chefs, habe die Veröffentlichung aber nie sehen können. Ich berichtete davon Herrn PD Dietrich, damals am Bergmannsheil-Klinikum Bochum als OA tätig und bat ihn, darüber einen Blog zu schreiben. Herr Dietrich konnte die Publikation ausfindig machen. Ich schrieb ihm jetzt und bat, sie Ihnen zugänglich zu machen. Schicken Sie ihm Ihre Wiener Adresse, an seine neue Anschrift am St. Josef-Krankenhaus Bochum (diese steht unter seinem obigen Beitrag). Viele Grüße! Helmut Schatz
@Noriker: Bbr. Karl Felliner war 1929 Vorortspräsident des CV (einen „ÖCV“ gab es in diesem Jahre noch nicht). Er richtete die CV-Vollversammlung in Wien aus. Erst 1932 mit dem aufkommenden Nationalsozialismus trennten sich die östeer rreichischen CV-Verbindungen als „ÖCV“ ab.
Pardon, muss natürlich 1933 heißen.
Lieber Herr Prof. Weissel, es war unerwartet schwierig, an die Originalarbeit zu kommen. Sie war ja zugleich Fellingers Habilitationsschrift, aber weder die Universität noch die Medizinische Universität Wien hatten sie vorliegen. Selbst eine Reise nach Wien hat nicht weitergeholfen.
Unerwarteterweise gab es noch ein einziges Exemplar in der Deutschen Zentralbibliothek für Medizin in Köln. Ich werde Sie wegen der Einzelheiten per eMail kontaktieren.