Medizinische Kurznachrichten der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie
(Prof. Helmut Schatz, Bochum)

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Glandotrope oder/und glandotrophe Hypophysenhormone? Dynamische Kompensation: Eine neue systembiologische Theorie erklärt bislang unverstandene endokrine Phänomene


Bochum, 26. Januar 2022:

Die Steuerhormone des Hypophysenvorderlappens werden je nach Autor manchmal als glandotrope und manchmal als glandotrophe Hormone bezeichnet. Hat sich hier ein Schreibfehler eingeschlichen? Mitnichten! Der erste Teil des Wortes stammt vom lateinischen Wort glandula (Drüse, ursprünglich waren damit als Leckerbissen genossene Drüsen des Schweinehalses gemeint) ab. Der zweite Teil leitet sich je nach Schreibweise vom griechischen τροπος (tropos für Wendung, Richtung) oder von τροφη (trophae für Ernährung) her. Die erste Variante betont also die Ausrichtung des Hormons auf ein Zielorgan (und damit die Steuerung seiner Funktion) und die zweite Variante die Stimulation des Wachstums der zugehörigen Drüse. Tatsächlich kennt man von verschiedenen Hypophysenhormonen diese duale Wirkung. Dies gilt insbesondere für das schilddrüsenstimulierende (TSH) und das die Nebennierenrinde stimulierende Hormon (ACTH).

Mit Ausnahme des Wachstumshormons, wo die beiden Wirkungen so eng zusammenhängen, dass sie sich gar nicht mehr unterscheiden lassen, wurden diese beiden Effekte in Wissenschaft und Klinik bislang fast völlig getrennt betrachtet. Die neue Theorie der dynamischen Kompensation, die im Laufe der vergangenen Jahre am systembiologischen Labor von Uri Alon am Weizmann-Institut im israelischen Rehovot entwickelt wurde, verbindet sie nun auf elegante Weise [1]. Damit lassen sich etliche bislang schwer verstandene Phänomene erklären.

Die Methodik beruht auf mathematischer Modellierung und Rechnersimulationen endokriner Regelkreise, die, im Unterschied zu bisherigen Ansätzen, auf zwei verschiedenen Zeitskalen umgesetzt werden. Eine kurze Skala (Minuten bis Stunden) bildet die Steuerung der hormonellen Funktion, eine lange Skala (Monate) die des Wachstums der Drüse ab. Regelkreise auf beiden Zeitskalen sind über dasselbe Steuerhormon gekoppelt.

Damit kann beispielsweise die automatische (und im Regelfalle optimale) Wachstumssteuerung endokriner Organe erklärt werden. Der Organismus weiß ja zunächst gar nicht, wie viele Nebennierenrindenzellen er beispielsweise bilden soll. Sind es zu wenige, kann die Nebenniere nur verhältnismäßig wenig Cortisol bilden, was zu einer gesteigerten Produktion des Steuerhormons ACTH führt. Dieses stimuliert nun aber nicht nur die Funktion der Nebennierenrinde, sondern über längere Zeit auch deren Wachstum. Mithilfe dieser dynamischen Kompensation passt sich die Organgröße selbsttätig an den individuellen Bedarf an. In der Klinik beobachtet man übrigens oft den umgekehrten Effekt: Das Schrumpfen der Nebenniere nach längerdauernder Therapie mit cortisonähnlichen Glukokortikoiden, was als steroidinduziertes Addison-Syndrom bezeichnet wird. Auch das ist ein Effekt der dynamischen Kompensation.

Bei Erkrankungen, die mit chronischem Stress und allostatischer Last einhergehen (Depression, Panikerkrankungen, Anorexie, posttraumatische Belastungsstörung etc.) ist die Antwort der Hypophyse auf einen Stimulationstest mit Corticotropin-Releasing Hormone (CRH) reduziert [2]. Dieses Phänomen erscheint zunächst paradox und ist bislang auch kaum verstanden gewesen. Mit Hilfe der dynamischen Kompensation lässt es sich elegant erklären: Da die Regelkreise gekoppelt sind, nimmt durch die allostatische Last als Folge der Stressbelastung die Nebennierenmasse zu. Die in der Folge gesteigerte Sekretionsleistung der Nebenniere hemmt die ACTH-Sekretion wieder. Auch nach Stimulation mit CRH wird dann nur eine verminderte ACTH-Menge ausgeschüttet (Abbildung) [3].

Viele Hormone unterliegen einem jahreszeitlichen Rhythmus (circannuale Periodik). Dies gilt beispielsweise für Cortisol, Schilddrüsenhormone, IGF-1 und Sexualhormone, die im Winter bzw. Frühjahr ihr Maximum zeigen. Dies ist auch durchaus biologisch sinnvoll, da beispielsweise Schilddrüsenhormone die Wärmebildung unterstützen. Bislang hatte man das durch eine zentrale Steuerung über den Hypothalamus erklärt, was aber nicht stimmen kann, da die zugehörigen Steuerhormone ihre Maxima überwiegend gar nicht im Winter, sondern im Sommer haben. Die zentralen und peripheren Hormone zeigen also eine gegenläufige Tendenz im Jahresrhythmus. Durch dynamische Kompensation mit mehrmonatig verzögerten Schwankungen der Organmasse lassen sich die zeitlichen Muster einfach und überzeugend erklären [4].

Abbildung: Die Dynamik der funktionellen Nebennierenmasse erklärt die paradoxe verminderte ACTH-Sekretion im CRH-Test bei chronischem Stress. Ein einfaches Modell ohne dynamische Kompensation (A) kann das beobachtete endokrine Muster nicht abbilden. Bei dynamischer Kompensation kommt es zu einer gesteigerten Sekretionsleistung der Nebenniere, welche die ACTH-Sekretion trotz Stimulation mit CRH bremst (B). Abbildung aus [3] (CC BY 4.0-Lizenz)

Kommentar

Auch heute noch sind bestimmte endokrine Phänomene oft noch unzureichend oder gar nicht verstanden. Dabei wäre ein besseres pathophysiologisches Verständnis von enormer Bedeutung, nicht nur für die medizinische Didaktik, sondern auch für die Entwicklung neuer diagnostischer und therapeutischer Methoden und schließlich auch für die individuelle Therapieplanung. Die Theorie der dynamischen Kompensation kann nun durch eine verhältnismäßig einfache Modellierungsplattform gleich eine ganze Reihe dieser Phänomene gleichzeitig erklären. Letztlich ist es damit auch möglich, die Wirkung von Stressbelastungen und jahreszeitlichen Effekten besser vorherzusagen. Auch die langfristigen Effekte therapeutischer Maßnahmen könnten sich künftig mit Hilfe dieser Modelle abschätzen lassen.

Wenn sie einmal empirisch besser abgesichert ist, könnte die Theorie der dynamischen Kompensation künftig auch helfen, therapeutische Maßnahmen zur Behandlung häufiger struktureller Erkrankungen, von der Struma über die Nebenniereninsuffizienz bis zum reversiblen postoperativen Hypoparathyreoidismus, zu entwickeln.

J. W. Dietrich, Bochum

Literatur

1. Karin O. Alon U.: Dynamical compensation in physiological circuits.
Mol Syst Biol. 2016 Nov 8; 12(11):886. doi: 10.15252/msb.20167216. PMID: 27875241; PMCID: PMC5147051.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27875241/

2. Smith MA. Nemeroff CB.: The corticotropin-releasing hormone test in patients with posttraumatic stress disorder.
Biol Psychiatry. 1989 Aug; 26(4):349-55. doi: 10.1016/0006-3223(89)90050-4. PMID: 2548631.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/2548631/

3. Karin O. Alon U.: A new model for the HPA axis explains dysregulation of stress hormones on the timescale of weeks.
Mol Syst Biol. 2020 Jul; 16(7):e9510. doi: 10.15252/msb.20209510. PMID: 32672906; PMCID: PMC7364861.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32672906/

4. Tendler A. Alon U.: Hormone seasonality in medical records suggests circannual endocrine circuits.
Proc Natl Acad Sci USA. 2021 Feb 16; 118(7):e2003926118. doi: 10.1073/pnas.2003926118. PMID: 33531344; PMCID: PMC7896322.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33531344/

Publiziert am von Dr. Johannes W. Dietrich
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6 Antworten auf Glandotrope oder/und glandotrophe Hypophysenhormone? Dynamische Kompensation: Eine neue systembiologische Theorie erklärt bislang unverstandene endokrine Phänomene

  1. Kathrin R sagt:

    Guten Tag, ich bin schon mehrfach auf die kompetenten Informationen hier gestoßen und habe auch eine Frage, nachdem mir Kliniken und Spezialisten bisher nicht weiterhelfen konnten. Sowohl TSH als auch FT3/4 sind seit längerem erniedrigt. Eine extrem hohe Dosis L-Thyroxin senkt nur den TSH Wert; T3/4 steigen maximal bis zur untersten Grenze des Referenzbereichs, egal wieviel ich nehme.

    Ich habe extreme Symptome, unter denen ich sehr leide (enorme Erschöpfung, Verstopfung, extreme Gewichtszunahme, Wassereinlagerungen, trockene Haut etc).

    Meines Wissens handelt es sich um eine sekundäre Hypothyreose. Allerdings wurde im MRT keine Veränderung festgestellt. Auch anderweitige Funktionstests hatten kein Ergebnis mit Ausnahme des Insulintests, bei dem eine inadäquate Reaktion der Wachstumshormone festgestellt wurde sowie postprandiale Hypoglykämie. Akromegalie wurde ausgeschlossen.

    Gibt es sek. Hypothyreose ohne Tumor? Was könnte man noch testen/ tun, damit es mir besser geht?…

  2. Johannes W. Dietrich sagt:

    @KATHRIN R: Ferndiagnosen sind bekanntlich schwierig, aber was Sie beschreiben, passt tatsächlich zu einer sekundären Hypothyreose (thyreotropen Insuffizienz). Wenn der Insulin-Hypoglykämietest keinen hinreichenden Anstieg des Wachstumshormons gezeigt hat, passt das dazu. Eine Veränderung im MRT ist für die Diagnosestellung keine Voraussetzung, es gibt durchaus Hypophyseninsuffizienzen, bei denen man keinen pathologischen Befund in bildgebenden Modalitäten erkennt.

    Wie gesagt, Ferndiagnosen sind schwierig, Fernbehandlungen noch mehr. Ich würde aber zunächst mal empfehlen, die Substitutionsdosis nur nach der FT4-Konzentration, nicht nach TSH zu bemessen. Die Blutabnahme sollte idealerweise erfolgen, *bevor* Sie die L-Thyroxin-Tablette einnehmen. Die Ergebnisse sind dann etwas genauer.

  3. KathrinR sagt:

    Sehr geehrter Herr Dietrich, danke für Ihre Antwort! Ich bin mir dessen bewusst, dass Ferndiagnosen heikel sind; es ging mir auch eher um einen allgemeinen Ansatz, wie ich vielleicht weiter verfahren könnte. Ich bin jung und habe zwei kleine Kinder; der Zustand, in dem ich mich seit knapp 2 Jahren befinde, ist so nicht erträglich.

    Ich nehme bereits knapp 3 µg Levothyroxin pro kg. Eine weitere Erhöhung scheint mir bzw. den Ärzten da auch eher schwierig, zumal der Erfolg bisher bescheiden ist. Ich habe bei den Steigerungen noch nicht einmal Nebenwirkungen gespürt, geschweige denn positives.

    Was halten Sie (allgemein) von einer Behandlung mit Thybon oder naturid. Hormonen? Oder gibt es sonst Therapieoptionen?

    Außerdem: Müsste man nicht versuchen, weiter an der Ursache zu forschen (sind ja meist gravierende Punkte), oder ist das mehr oder weniger egal?

    Ich bin bereits in der LMU in Behandlung, wo man mir aber bislang nicht helfen kann. Weitere Spezialisten haben mind 6 M…

  4. Woran sehen Sie, dass 3 µg/kg Körpergewicht nicht reichen? Die mangelnde TSH-Antwort ist in Ihrem Falle ja wohl kaum aussagekräftig. Ich würde empfehlen, (neben FT4 und FT3 natürlich) SHBG und Coeruloplasmin als TSH-unabhängige Marker für die Versorgung mit Schilddrüsenhormonen zu messen. Wenn ein Anhaltspunkt für eine Resorptionsstörung besteht, muss dem nachgegangen werden, z. B. durch einen Atemtest zum Ausschluss einer bakteriellen Fehlbesiedelung oder eine Gastroskopie.

    Die Einnahmemodalitäten (nüchterne Einnahme, nicht zum Kaffee einnehmen, Handelspräparat möglichst nicht wechseln etc.) sind Ihnen sicher bekannt.

    Wir haben zu dem Thema vor längerer Zeit mal einen Übersichtsartikel geschrieben: https://doi.org/10.1055/s-0028-1082780

  5. Kathrin R sagt:

    Danke, den Beitrag werde ich lesen. Die Dosis reicht anscheinend nicht, da sich das TSH zwar reduziert, aber sich T4 und T3 nicht ändern/ansteigen und bei der jetzigen Dosis gleich hoch sind wie zB bei der Hälfte Thyroxin. Unabhängig davon geht es mir auch noch unverändert schlecht.

    Die wichtigsten Punkte zur Einnahme befolge ich natürlich. Ein Test mit Tropfen statt Tabletten brachte auch keinen Erfolg.

  6. Johannes W. Dietrich sagt:

    Möglicherweise wäre bei Ihnen die Durchführung eines Schilddrüsenhormonresorptionstests sinnvoll.

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