Bochum, 2. Oktober 2020:
Kürzlich erlebte ich, wie bei einem meiner Verwandten, nicht den Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) 2020 entsprechend, schließlich doch ein Resynchronisationsschrittmacher bei Linksschenkelblock und Bradykardie mit hochgradiger kardialer Leistungseinschränkung (extreme Belastungsdyspnoe, massive Beinödeme) implantiert wurde. Zuvor hatten alle kardiologischen Untersuchungen Resultate ergeben, die nicht den Leitlinien zur Implantation entsprochen hatten: So lag etwa die Ejektionsfraktion echokardiographisch und beim Linksherzkatheter zwischen 45 und 50%, in der Koronarangiographie waren Herzkranzgefäße und Klappen weitgehend unauffällig, und ein Rechtsherz-Einschwemmkatheter zeigte in Ruhe einen normalen Pulmonaldruck. Der Patient und sein Kardiologe entschieden sich in einer „shared decision“ dennoch zur Implantation eines Dreikammerschrittmachers. Sogleich waren die kardialen Symptome verschwunden: Der Patient hatte keine Beinödeme mehr, und auch keine Dyspnoe; er konnte wieder über lange Strecken gehen und auch Treppen ohne Atemnot steigen.
Durch dieses Erlebnis sah ich mich veranlasst, mich wieder einmal mit dem Thema Leitlinien und Evidenz-basierte Medizin zu beschäftigen, zumal mich kürzlich auch als dem Blog-Verantwortlichen der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie eine Patientin zu einem meiner Beiträge anschrieb und meinte, dass die „Ärzte juristisch gezwungen seinen, den Leitlinien zu folgen“. Ich habe ihr geantwortet, dass dies nicht zutreffe und dass bei Begründung von den Leitlinien durchaus abgewichen werden könne, oder sogar in besonderen Fällen abgewichen werden müsse.
In der deutschen Diabetologie gibt es schon sehr lange Evidenzbasierte Leitlinien. Im Jahre 2006 schrieb Werner Scherbaum, damals Ordinarius für Innere Medizin an der Düsseldorfer Universität, in der 4. Auflage des vom Referenten (H.S.) herausgegebenen Lehrbuchs „Diabetologie kompakt“ (1) das Eingangskapitel über die „Evidenzbasierte Medizin (EBM) und die Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft“. Er zitiert David Sackett, den „EBM-Vater“:
Evidenzbasierte Medizin:
„ EBM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlich begründeten Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die 3 wesentlichen Kriterien der EBM:
1.) Bestmögliche Evidenz nach wissenschaftlichen Studien
2.) Expertise des Arztes
3.) Einbeziehung des Patienten in den Entscheidungsprozess.
Sackett war es, der die Kliniker lehrte, wie man die in wissenschaftlichen Studien gewonnenen „Evidenzen“ anwenden soll. Darin ging er also einen Schritt über die Studienresultate hinaus und bezog die ärztlichen Erfahrungen sowie die individuelle Situation und die Präferenzen des Patienten in die Entscheidungsfindung ein. Manche, vor allem junge Ärzte verstanden, und verstehen auch heute oft noch, als „evidenzbasiert“ nur die erste Stufe nach Sackett, die wissenschaftlichen Studien (2).
Die Studien hat die Agency for Health Care Policy and Research (AHCPR) in vier Evidenzklassen eingeteilt:
Ia: Metaanalysen von gut angelegten randomisierten klinischen Studien
Ib: mindestens eine randomisierte Studie
IIa: mindestens eine gut angelegte, kontrollierte Studie ohne Randomisation
IIb: mindestens eine andere Art von gut angelegter quasi-experimenteller Studie
III gut angelegte, nichtexperimentellen deskriptive Studien wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien und Fall-Kontroll-Studien
IV: Berichte von Expertenausschüsse oder Expertenmeinungen und/oderklinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten.
Die Studienergebnisse können, abhängig vom Design, zum Beispiel als Hazard Ratio (HR) mit Konfidenzintervallen (95% CI) angegeben werden; Kaplan-Meier-Kurven wiederum schätzen die Wahrscheinlichkeit ab, wie lange ein bestimmtes Ereignis (Tod, Herzinfarkt, Dialysepflichtigkeit etc.) in einem bestimmten Zeitraum nicht eintritt.
Aber auch wenn wissenschaftliche Resultate aus Studien einer hohen Evidenzklasse für ein gewähltes Kollektiv mit allen Ein- und Ausschlusskriterien statistisch signifikant sind, ist deren klinische Relevanz zu hinterfragen. In die Empfehlungen der Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft fließt die klinische Relevanz u.a. in die Härtegrade A, B und C mit ein.
Der EBM-Begriff darf nicht, wogegen sich schon Sackett heftig verwahrte, für eine „top-down cookbook medicine“ missbraucht werden. Sie würde heute oft „hijacked by purchasers and managers to cut costs of health care“. Es bestehe auch die Gefahr, dass die EBM von einer „Evidence-based“ zu einer „Evidence-biased Medicine“ wird (3).
Leitlinien
Im Unterschied zu Konsensus-Leitlinien von einzelnen Gremien die von geringem wissenschaftlichem Wert und geringer Akzeptanz insbesondere überregional sind, werden
Evidenzbasierte Leitlinien von repräsentativen Gremien erarbeitet und in ihrer Aussage durch wissenschaftliche Daten klinischer Studien begründet. Die Fachgesellschaft gibt in der Regel ihre Gültigkeitsdauer an. Sollte keine Angabe erfolgt sein, werden die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachverbände (AWMF) in Deutschland nach spätestens 5 Jahren aus dem Publikationssystem entfernt.
Die Deutsche Cochrane Foundation definiert Leitlinien folgendermaßen (4): „Leitlinien (guidelines) sind systematisch entwickelte Aussagen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung von Ärzten, anderen im Gesundheitssystem tätigen Personen und Patienten. Die Berücksichtigung und Diskussion gegensätzlicher Standpunkte und besonderer situativer Erfordernisse ist ein wichtiger Bestandteil der Leitlinienentwicklung. Leitlinien entbinden den Arzt nicht von der Überprüfung der individuellen Anwendbarkeit im konkreten Fall, sie dienen lediglich als Entscheidungshilfen und sind rechtlich nicht verbindlich…..“.
Was man früher also gerne als „Ärztliche Kunst“ bezeichnet hat, stellt das zweite Kriterium der EBM nach Sackett dar. Auch die heute viel diskutierte „personalisierte“ oder „individualisierte Medizin“ mit Einbeziehung des Patienten in die Entscheidungsfindung (insbesondere im Englischen oft als „precision medicine“ bezeichnet) ist in der EBM schon im dritten Kriterium (s.o.) integriert.
Facit
Ärzte haben die wissenschaftlichen Studienresultate und die aktuellen evidenzbasierten Leitlinien zu kennen. Die Entscheidung zu medizinischen Maßnahmen haben sie aber unter Berücksichtigung ihrer eigenen Expertise und ihrer Fähigkeiten gemeinsam mit dem Patienten zu treffen, wobei dessen individuelle Besonderheiten und Wünsche zu einer „shared decision“ führen. Das Beispiel aus der Kardiologie, das Anlass für diesen Beitrag war, bestätigt ein derartiges Vorgehen.
Helmut Schatz
Literatur
(1) Werner A. Scherbaum: Evidenz-basierte Medizin (EBM) und die Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft. In: Helmut Schatz: Diabetologie kompakt, 4. Auflage, Thieme, Stuttgart 2006, Seite 1-6
(2) Helmut Schatz: David Sackett, der „Vater der Evidenzbasierten Medizin“ ist mit 80 Jahren gestorben.
DGE-Blogbeitrag vom 22. Mai 2015
(3) Helmut Schatz: EBM: „Evidence-based“ oder „Evidence-biased Medicine“?
Ärzte Woche 28. Juni 2007, Seite 4
(4) Cochrane Deutschland: Leitlinien.
https://www.cochrane.de/de/leitlinien
Lieber Herr Prof. Schatz,
Wussten denn die Ärzte dieses Patienten von Ihnen, dem ärztlichen Verwandten? Oder ist der Patient selber Mediziner?
Es tut mir leid, aber meine bittere Erfahrung ist :Ja, das geht alles, Aber nur mit Vitamin B. Ich hatte selber wunderbare Ärzte, die mich auf diese Weise behandelt haben, medizinisch und menschlich. Das waren die, die mich persönlich kannten als Geigerin. Später sahen die shared decisions so aus, dass man mir nicht einmal die Befunde mitteilte. Mit einer einzigen Ausnahme, dieser Ärztin bleibe ich dankbar .
Das ist heutige Normalität, ich höre es von vielen anderen genauso. Der Hauptgrund mag die Zeitnot sein und nicht etwa böser Wille. Aber was helfen mir da feine Erklärungen?
Liebe Beppo, der Kardiologe wusste wohl von mir als Arzt, ich habe mich aber wenig eingemischt. Der Verwandte war aber gut vorinformiert und seine Beschwerden ware, wie ich es auch beobachten konnte, sehr heftig.
Lieber Professor Schatz,
Es ist eine schöne Geschichte, die einfach erfreut. Ich habe so etwas erlebt, als ich in meinen Jahren mit schlimmsten Behinderungen an einem Tumor im Frühstadium erkrankte, beste Heilungschancen, aber wie in diesem Zustand die Therapie überstehen? Die Leitlinie war nicht gedacht für eine so kranke Patientin. Da hat meine Ärztin mich wunderbar hindurchgeführt. Manches haben wir anders gemacht, als die Leitlinie wollte. Das war kein Problem, weder ärztlich noch von der Krankenkasse her, die eine zusätzliche OP bezahlt hat.
Die Leitlinien sehe ich als schützend. Was ich als Hashimotopatientin mitbekomme…..Es sind genau die Patienten, die sehr klagen, die höchst fragliche Diagnosen erhalten haben und dann mit Mengen an Hormonen beglückt werden. Wegen Überforderung gehen Patienten heute manchmal unter, schlimm genug. ( Bin z. B. mal ungeröntgt mit 2 gebrochenen Wirbeln nach Hause geschickt worden). Da brauche ich nicht noch flotte experimentelle…