Bochum, 18. Oktober 2023:
Der Pharmakovigilanzausschuss PRAC der Europäischen Medizin-Agentur (EMA) veröffentlichte am 12. Juli 2023 in Amsterdam ein Statement, dass Semaglutid und andere GLP-1-Agonisten zu Suicid-Gedanken und sogar zum Selbstmord führen könnten.
In einer Pressemitteilung teilte die EMA teilte mit, dass nach zwei ihr vorliegenden Berichten aus Island über Selbstmordgedanken und Selbstverletzung unter Liraglutid und Semaglutid jetzt eine umfangreiche Überprüfung erfolge. Bei europäischen Gesundheitsbehörden seien Berichte über ~150 Fälle von Selbstverletzung und Selbstmordgedanken unter diesen beiden GLP-1-Agonisten eingegangen. Ende 2023 sollen die erste Resultate vorliegen (1).
Auch der U.S. amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) liegen 265 Meldungen über Suicidgedanken oder suicidales Verhalten unter solchen Medikamenten, und auch unter dem jetzt verfügbaren Twincretin Tirzepatid (Mounjaro®, Lit. 2) vor. Diese wurden in einer umfangreichen Analyse der Daten durch REUTERS untersucht (3).
Französischen Gesundheitsbehörden (ANSM) wiesen auf Grund dieser Daten darauf hin, Semaglutid, welches in Frankreich in großem Maße verwendet wird, nur entsprechend der gültigen Indikation einzunehmen.
Ärztlicherseits seien als Nebenwirkungen zwar Übelkeit und Erbrechen wohlbekannt und führten in seltenen Fällen zum Therapieabbruch, auch bestehe ein höheres, wenn auch letztlich nicht voll bestätigtes Risiko für akute Pankreatitis. Ein bei Tieren beobachtetes erhöhtes Risiko für Schilddrüsenkrebs wurde beim Menschen in dieser Form nicht bestätigt. Als weiteres Risiko von Semaglutid und anderen GLP-1-Agonisten wird jetzt das für Suicid untersucht.
Viele Ärzte werden sich noch daran erinnern, dass das Antiobesitas-Medikament Rimonabant (Acomplia®) nach seiner deutschen Zulassung 2006 bald wieder vom Markt genommen wurde, da es das Risiko für Depressionen und Suicid erhöhte. Hinweise dafür hatten sich schon in den Zulassungsstudien für Rimonabant ergeben, bei den klinischen Studien mit GLP-1-Agonisten hingegen nicht. Die Wirkmechanismen dieser beiden Medikamentengruppen sind auch verschieden.
Über den Effekt von GLP-1-Analoga über die Psyche als Ursache für die Suicidgedanken lässt sich nichts Genaueres sagen. Über eine antidepressive Wirkung von GLP-1-Analoga liegen umgekehrte Beobachtungen vor (4,5). Es ist vorstellbar, dass schon die gastrointestinalen Nebenwirkungen und die Inappetenz der GLP-1-Analoga – Essen ist ja auch ein Ventil der Belohnung und der Freude – bei vulnerablen Personen depressive Tendenzen verstärkt. Man weiß, dass die Adipositas selbst mit einem höheren Risiko für Suicidgedanken und Selbstverletzung assoziiert ist. Ein solches ist mitunter auch nach Adipositas-chirurgischen Eingriffen zu beobachten.
Facit für die Praxis: Beim Einsatz von GLP-1-Agonisten sollte man sich streng an die Indikationen halten. Mit Interesse sind die laufenden Untersuchungen zum Suicidrisiko unter dieser Substanzklasse abzuwarten, die gegen Ende 2023 vorliegen dürften.
Helmut Schatz und Wiebke Fenske
Literatur
(1) Boris Hansel: GLP-1-Agonists and Suicide Risk: What Action Should Be Taken?
Medscape – Sep 20, 2023
(2) Helmut Schatz: Tirzepatide, ein Twincretin aus GIP und einem GLP1-Rezeptor-Agonisten.
DGE-Blogbeitrag vom 25. Juni 2021
(3) Robin Respaut and Chad Terhune: Wegovy, Other Weight-Loss Drugs Scrutinized Over Reports of Suicidal Thoughts.
Sep 29, 2023. Reuters Health Information 2023
(4) Young-Kook Kim et al.: Alleviation of Depression by Glucagon-like Peptide 1 Through the Regulation of Neuroinflammation, Neurotransmitters, Neurogenesis, and Synaptic Function.
Front Pharmacol. 2020.11: 1270
(5) Hibah Khaja: GLP-1 Receptor Agonists Show Promise in Reducing Depressive Symptoms.
Psychiatry ADVISOR Oct 10, 2023
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